FÜNF oder wie Elaine sich selbst mit ihren Gedanken plagte

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Verschlafen rieb sie sich über ihre Augen und versuchte verzweifelt ihrem Lehrer zu folgen. Doch irgendwie hatte sie viel zu schlecht geschlafen. Die ganze Nacht über plagten sie schlimme Kopfschmerzen. So wie vor ein paar Wochen. Deswegen sind sie auch zum Arzt gefahren. Zuerst wollte sie nicht untersucht werden. Es waren schließlich nur ein bisschen Kopfschmerzen. Doch dann wurden sie immer schlimmer und sie musste sich mehrmals übergeben. Da hatte ihr Vater sie zum Arzt geschleppt. Dieser fand diese Symptome als nicht sehr schlimm. Also verschrieb er ihr nur ein paar Kopfschmerztabletten. Zu Beginn halfen ihr die Tabletten auch erstmal, doch verschwinden taten die Kopfschmerzen lange nicht. Ihr Vater empfand den Arzt als unbrauchbar und fuhr mit ihr zum Krankenhaus. Das war letzte Woche Montag. Sechs Tag später bekam sie dann die Diagnose. Es war fast schade, wie schnell die Zeit von den ersten Anzeichen zur Diagnose verflogen ist. Das waren gerade mal dreieinhalb Wochen.
Während diesen fast vier Wochen hatte Elaine schon mehreremal nach anderen Krankheiten, die Kopfschmerzen als Symptome hatten, im Internet gesucht, es dauerte nicht lange und die Möglichkeit zu einem Hirntumor war das Ergebnis ihrer Suche geworden. So konnte sie sich mit dem Gedanken zu sterben anfangen abzufinden.
Davon hatte ihr Vater bisher noch nicht erfahren. Sonst würde er ihr vielleicht Vorwürfe machen, dass sie ihm nicht früher von ihrer Vermutung erzählt hatte oder noch viel schlimmer wäre es, wenn er sich selbst Vorwürfe machen. Schon jetzt machte er sich möglicherweise Vorwürfe, dass er nicht bemerkt hatte, dass seine Tochter Krebs hatte.
Nur war dem nicht so. Wer konnte schon wissen, dass sie Krebs haben könnte. Es waren immerhin nur Kopfschmerzen. Das war zumindest ihre Meinung. Auch ihr wäre niemals die Idee gekommen, dass sie einen Hirntumor haben könnte. Vor allem, dass es einen Unterschied bei Tumoren gab, hatte sie auch nicht gewusst. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr Leben von einem kleinen Wort abhing. Gut- oder Bösartig. Zwei kleine Wörter, die man vor die Tumore zu schreiben hat, und doch ist ihre Bedeutung eine komplett andere. Was hätte sie nicht alles dafür gegeben einen gutartigen Tumor zu besitzen. Aber bei ihr gab es keine Hoffnung. Das Einzige, was sie schätzen konnte, war ihre vergeichsweise lange Zeit. Eineinhalb Jahre könnte sie ungefähr überleben.
Ein Jahr gab sie sich selbst. Ihr Doctor hatte mit ihr allein schon ein Gespräch geführt. Die Therapie, die sie für die eineinhalb Jahre machen müsste oder eher gesagt musste, wird sehr an ihrer noch vorhandenen Stärke zehren. Ihr würden vielleicht die Haare abfallen, doch Doctor Johnson ist guter Dinge, dass dies wohl nicht geschieht.
Auf jeden zu anstrengenden Sport wird sie verzichten müssen. Dies interessierte sie nicht wirklich. So hatte sie zumindest immer eine Entschudigung für den Sportunterricht. Leider war es nämlich notwendig die Lehrer über eine solche Situation aufzuklären.
Noch heute Mittag würde ihr Vater in die Schule kommen, um die Direktorin über ihre Diagnose aufzuklären. Sie würde bei diesem Gespräch einfach nur neben ihm sitzen und höchstens darauf plädieren alles unter Geheimhaltung zu halten. An ihrem Entschluss, niemanden etwas davon zu erzählen, hatten sie bisher nicht vor ab zu halten.
Vielleicht würde sie ihren Tod auch nur so darstellen, als würde sie auf ein Internat gehen. Aber dies hatte sie noch nicht wirklich durchdacht.
Heute war Freitag und mal wieder hatte sie nichts geplant für den Tag. Nur noch diese letzte Schulstunde und dann war endlich Wochenende. Von nun an hatte sie zumindest einen festen Tagesplan und der war am Samstag. Denn nun musste sie jeden Samstagmorgen in die Klinik. Wie sehr sie sich doch darüber freute. Kein Stück, da hätte sie doch viel lieber nichts vor.
Bevor ihre Augen vollständig zu fielen, blickte sie auf die Uhr über der Tür. Der Minutenzeiger wollte einfach nicht von der Stelle gehen.
Eigentlich dachte sie, dass sie lange ihren Gedanken nachgehangen hatte, doch dem war gar nicht so. Genauer gesagt waren gerade einmal drei Minuten vergangen. Ein Seufzen verließ ihre Lippen und von den Kopfschmerzen geplagt, ließ sie ihren Kopf auf ihre Hände sinken.
Langsam wandertete ihr Blick über die anderen Sitzplätze. Dafür musste sie ausnahmsweise nicht ihren Kopf nach hinten verenken. Denn ihre letzte Stunde am Freitag war die einzige Stunde, in der sie nicth in der ersten sondern hinten saß. Doch da sie eine U-förmige Sitzordnung besaßen und keiner in ihrem direkten Blick zur Tafel saß, konnte sie auch von hier fantastisch die Tafel erkennen. Neben ihr hockte ein weiterer Streber. Also es war nicht so, dass sie sich selbst als Streber ansah, aber der neben ihr war wirklich einer. Egal welche Frage der Lehrer gestellt hatte, ihr Sitznachbar hob, noch bevor die Frage vollständig ausgesprochen war, seinen Arm und konnte die Frage beantworten. Desweiteren gab er jede Stunde eine Doppelseite ab.
Elaine konnte das sehr gut nachvollziehen, weil er einen ziemlich ähnlichen Stundenplan wie sie besaß. Trotzdem kannte sie seinen Namen nicht oder sie wollte ihn einfach nicht wissen. Ein weiteres Bespiel für ihre Oberflächlichkeit, wie sie mit Bedauern feststellen musste. Doch sie konnte sich einfach nicht dazu abringen ein Gespräch mit dem Jungen mit der Zahnspange anzufangen. Allein die drei fetten Eiterpickel auf seiner Nase ließen sie vor Ekel erschaudern. Irgendwie tat er ihr auch leid, aber auf der anderen Seite besaß auch sie ihren Stolz.
Ihr war wohl klar, dass sie nicht zu den Beliebten der Stufe gehörte, aber so unbeliebt, dass sie mit ihrem Sitznachbarn abhängen musste, war sie auch nicht. Schließlich hatte sie Lion und zu Not konnte sie auch noch ihre Schwester nerven. Obwohl das nicht mal halb so spannend war, wie man es sich vorstellte.
Ihre Liebe für ihre Schwester war zwar wirklich nicht gering, doch in der Schulzeit zeigten die beiden Engels diese nicht wirklich besonders. Wie gesagt, viele wussten wahrscheinlich nicht mal von ihrer Verwandtschaft. Aber Elaine fand dies echt nicht schlimm und sie wusste auch, dass Mia diese Verwandtschaft am liebsten vor ihren Freunden geheim halten wollte.
Als dann endlich der Minutenzeiger Schulschluss anzeigte, war Elaine einer der Ersten, die aus dem Klassenraum strömten. Ihre Füße führten sie direkt zu Lion, der draußen auf sie wartete. Er hatte gerade Sport und war wohl schneller als sie gewesen. Gemeinsam setzten sie sich in sein Auto und düsteten vom Schulgelände. In Gedanken machte sie sich schon auf eine entspanntes Wochenende bereit.

How I would like to say GoodbyeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt