Die ganze Woche über bemerkte Elaine eine kleine Veränderung in ihrem Leben. Plötzlich wussten mehrere Menschen ihren Namen und vor allem waren Mitschüler nett zu ihr, die vorher nicht einmal ein Wort mit ihr gewechselt hatten. Von ihrer einen Mitschülerin wurde sie sogar zu ihrer Party eingeladen, doch Elaine sagte dankend ab. Selbst mit ihrem neuen Kleidungsstil war sie noch nicht dazu bereit zu einer Party zu gehen. Auch Lion konnte diese Veränderung hautnah miterleben. Doch aus seiner Sicht verwunderte ihre Veränderung ihn einfach nur. Seine beste Freundin kleidete sich mit einem Mal komplett anders und immer wieder sah er sie mit Raphael abhängen.
Auch in den Pausen war Raphael nun häufiger bei den Zweien. Lion verstand den Grund dafür einfach nicht. Jahrelang waren die Beiden vollkommen zufrieden mit dem, was sie waren, und nun schien es so, als hätte sich etwas verändert. Mehrmals hatte er versucht Elaine darauf anzusprechen, aber wirklich mit ihr sprechen konnte er nicht. Für ihn war es so, dass er meinte noch sein ganzes Leben vor sich zu haben, doch für Elaine sah das nun einmal anders aus. Deswegen wollte sie sich auch verändern. Sie war es Leid nur das Mauerblümchen zu sein.
Heute musste sie mal wieder Nachhilfe geben und wenn sie ehrlich war, hatte sie wirklich keine Lust mehr diesem Zehntklässler etwas zu erklären versuchen, während der sich mit allem beschäftigte, solange es nichts mit Schule zu tun hatte. Insgesamt gab sie jeden Monat drei Mal bei diesem Jungen Nachhilfe. Aber wirkliche Fortschritte konnte sie bisher noch nicht erkennen. Wie denn auch, bei manchen war es einfach ein Wunder, dass sie auf dieses Gymnasium gehen durften.
"Man ich habe keine Lust auf diesen Vollidioten!" schmollte sie jetzt schon zum gefühlt tausensten Mal. Lion konnte über dieses Verhalten nur seine Augen verdrehen. Schon seit einem Jahr versuchte er sie dazu zu überreden dem Jungen einfach zu kündigen und ihm sein Leben leben zu lassen. Aber auch das konnte sie einfach nicht, er würde ohne sie auf gar keinen Fall das Halbjahr, geschweige denn das gesamte Schuljahr und damit seinen Realschulabschluss. Sie war einfach viel zu lieb, um daran Schuld sein zu wollen. Wenn sie dies zulassen würde und er deswegen keinen Abschluss bekommen würde, würden sie die Schuldgefühle von innen heraus auffressen. Dies wollte sie sich einfach nicht antun, also würde sie auch heute wieder zu diesem Vollidioten gehen und irgendwie versuchen etwas in sein Gehirn zu bekommen.
Doch wahrscheinlich würde er sie entweder mit Beleidigungen oder dummen Sprüchen nerven oder sie würde mit sich selbst reden, weil der Junge nicht von seinem IPhone hochblicken konnte, um ihr zuzuhören.
Pünktlich in ihrer siebten Stunde, bei ihr fiel es in eine Freistunde von ihr, kam sie in dem Unterrichtsraum des Zehntklässlers an. Der saß noch mit seinem Kumpel in der einen Ecke und lachte über rgendetwas. Mal wieder trug er eine hässliche Jogginghose und eine komische Cap auf dem Schädel. Sein Gesicht hatte einen neuen Pickel seit dem letzten Mal bekommen und sein Pulli wurde von einem ekelhaften Fleck geschmückt. Manchmal fragte sie sich, wie dieser Junge eine so hübsche und freundliche Schwester haben konnte. Sein Schwester hatte letztes Jahr Abitur gemacht und studierte nun Jura in Köln. Von ihr wusste sie, dass die Familie eigentlich ziemlich reich und auch bekannt in Latzen war, doch ihr Bruder machte der Familie ganz bestimmt keine allzu große Ehre. Jeden Tag war sie topgestylt in die Schule gekommen und ihr Bruder trug Klamotten wie ein Obdachloser. Obwohl das wäre wohl eher eine Beleidigung gegen die Obdachlosen, selbst die trugen schönere Kleidung als er.
"Hallo, Tom? Du hast jetzt Nachhilfe." rief sie den beiden Jungs zu.
Der Angesprochene hob nicht einmal seinen Kopf, wenigstens sein Freund bemerkte sie und verschwand kurz darauf dann aus dem Raum. Da sie keine Lust darauf hatte durch den ganzen Raum schreien zu müssen, nahm Elaine ihre Sachen und ließ sich auf einem Stuhl hinter ihm nieder. Nun hatte sie die Tafel im Rücken und vor ihr war noch ein Tisch hinter dem dann Tom saß.
"Was habt ihr denn diese Woche gemacht und was davon hast du nicht verstanden?" fing sie an, doch noch immer hob er seinen Kopf nicht. "Dann schau ich mir halt dein Heft an und erfahre daraus die Themen."
In seinem Heft waren verschiedene Gleichungen zu sehen. Dies war wohl seine Physikmappe. Kurz überflog sie die Rechnungen und musste feststellen, dass die Hälfte komlett den falschen Ansatz hatten und der Rest einfach nur ein falsches Ergebnis. Etwas wütend, weil sie bei der letzten Stunde genau das erklärt hatte, schlug sie die Mappe wieder zu. "Schön du solltest kein Physik im Abitur nehmen."
Zum ersten Mal hob er seinen Kopf und grinste sie an. Sie nahm die nächste Mappe hervor und dies war seine Englischmappe. Über seine Grammatik konnte sie zwar nur den Kopf schütteln aber zumindest schien er ein bisschen Vokabeln gelernt zu haben. Auch diese Mappe schlug sie zu und stellte laut fest, dass er wohl kein Englisch Leistungskurs wählen sollte. Sein Vokabular war für Grundkurs wohl gerade so noch genügend und der Lehrer könnte ihm vielleicht die Grammatik besser beibringen. Denn sie hatte heute nicht die Geduld dazu.
"Du siehst anders aus. Heißer..." hörte sie da eine Stimme von ihrem Gegenüber.
Angeekelt schaute sie hoch. Ganz langsam und mit einem perversen Grinsen fuhr sein Blick über sie und sie schüttelte sich nur einmal. Noch nie hatte er sie angemacht und diese Erfahrung wollte sie eigentlich auch nie gemacht haben.
Einfach nur ekelhaft, niemand wollte von einem dummen, jüngeren Jungen angemacht werden, aber sie wäre nicht Elaine, wenn sie dies nicht überhören könnte. Also schlug sie einfach nur die nächste Mappe auf und schlug sie daraufhin gleich wieder zu. Latein hatte sie nicht in der Schule, dabei konnte sie also gar nicht helfen. Die letzte Mappe war seine Mathemappe.
Sie entschied sich dazu, dass heute eine Stunde Mathe notwendig sei und schlug sein Buch auf. Danach legte sie ihm beides hin und zeigte auf eine Aufgabe, die er ihr vorrechnen sollte. Aber anstatt die Aufgabe auch nur anzuschauen glotzte er einfach weiter auf ihren Ausschnitt.
"Du, ich, Kino? Was sagst du?"
Angewidert schüttlete sie ihren Kopf und hielt ihm seinen Stift hin. Da schaute er sich die Aufgabe erst an und schüttelte dann selbst seinen Kopf. "Kann ich nicht."
"Das ist eine ganz einfache Wurzelaufgabe aus dem Wiederholungsteil aus der neunten Klasse. Du musst das können!" erwiderte sie nur und fing an ihm die Wurzelgesetze zu erklären.
Aber auch nach zwanzig Minuten schien rein gar nichts in seinem Schädel angekommen zu sein. Frustriert ließ sie ihren Kopf auf ihre Hände sinken. "Wie kannst du das immer noch nicht verstanden haben?Du solltest wohl auch kein Mathe Leistungskurs nehmen..."
Er lehnte sich nur zurück und grinste sie einfach nur an. "Warum willst du nicht mit mir ausgehen?"
"Weil ich nicht mit meinem Nachhilfeschüler ausgehe!" rief sie laut aus und fing an ihre Sachen zusammen zu packen.
Nun hatte er es geschafft. Sie war nicht nur genervt, sondern dazu noch angewidert und wütend gemacht worden von diesem kleinen Hosenscheißer. Ohne ein Wort zu sagen stand sie auf und lief zur Klassenzimmertür. Erst dort drehte sie sich um und schaute noch ein letztes Mal zu dem Jungen. "Weißt du was? Du solltest vielleicht nur froh sein, dass du überhaupt noch auf diese Schule gehst. Denn ich weiß wirklich nicht, wie du es in die zehnte Klasse geschafft hast. Fähig für die Oberstufe im nächsten Jahr bist du auf jeden Fall nicht. Aber falls du wenigstens noch deinen Realschulabschluss haben willst, solltest du dich vielleicht nach einem neuen Nachhilfelehrer umsehen, denn ich kündige!"
Damit öffnete sie die Tür und verließ den Raum. Hinter sich hörte sie noch, wie Tom sie wiederholt nach einem Date frage, weil sie nun schließlich nicht mehr seine Nachhilfelehrerin war. Ein verzweifelter Schrei kam über ihre Lippen. Sie war nun wirklich nicht einfach auf die Palme zu bringen, aber dieser Junge toppte einfach alles.
Ein Lachen ertönte direkt vor ihr und vor Schreck schrie sie ein weiteres Mal auf. Direkt vor ihr stand Raphael und lachte sich halb schlapp. Sofort fragte sie sich, wie lange er schon hier war und wie viel er wohl von der Nachhilfestunde mitbekommen hatte.
Doch diese zwei Fragen verkniff sie sich lieber, es war schon peinlich genug, dass sie wusste, dass er die letzte Frage von ihrem Ex-Nachhilfeschüler auf jeden Fall mitbekommen hatte.
Raphael lachte noch immer und schob sie dann etwas zur Seite. Danach öffnete er die Klassenzimmertür und steckte seinen Schädel dazwischen. "Nur noch einmal zum Mitschreiben. Sie wird nicht mit dir Ausgehen, weil sie heute schon etwas vor hat. Außerdem geht sie schon mit mir aus, warum sollte sie dann mit so jemanden wie dir ausgehen?"
Mit diesen Worten schloss er die Tür wieder hinter sich und zog Elaine mit nach draußen. Elaine ließ es einfach geschehen. Langsam gewöhnte sie sich an seine etwas spezielle Art. Denn in einem Moment war er auf Späße aus, in dem anderen wurde er zu einem für ihr unbekannten Jungen und dann legte sich wieder ein gespieltes Lachen auf seine Lippen. Sie wurde einfach nicht schlau aus diesem Jungen. Für sie besaß er einfach zu viele Masken und sie konnte sich nie ganz sicher sein, ob das nun der echte Raphael war oder nur eine seiner Masken. Aber sie war sich sicher, dass sie zumindest dafür noch genug Zeit besaß. Sie würde den echten Raphael finden.
DU LIEST GERADE
How I would like to say Goodbye
Художественная проза1 Jahr 356 Tage 8544 Stunden 512640 Minuten 30758400 Sekunden So viel Zeit blieb ihr höchstens noch. 30758400 Sekunden für genau 99 Wünsche, dass sollte doch eigentlich nicht allzu schwer sein. Sie brauchte nur Hilfe, doch wer half einem sterbende...
