SECHSUNDSECHZIG oder wie Elaine ihren Mut an einem traurigen Ort sammelte

35 4 2
                                        

Nachdem Elaine erst einmal eine Woche bei ihrem Vater und ihrer Schwester nach der langen Reise gelebt hatte, zog sie wieder in die Wohngemeinschaft mit Raphael und Emma ein. Diese hatte auch schon eine passende Mitbewohnerin für ihre kleine Gemeinschaft gefunden. Eigentlich wollten die beiden besten Freundinnen nach dem Urlaub von Elaine in ein Zimmer ziehen, doch Raphael und sie hatten ihre beste Freundin freundlich darüber aufgeklärt, dass dies nicht mehr von Nöten sei. Immerhin würde Raphaels Zimmer so oder so frei werden, denn das frisch verheiratete Paar hatte sich klar und deutlich dafür entschieden zumindest ein gemeinsames Zimmer zu besitzen, wenn sie sich schon keine eigene Wohnung leisten konnten.
Somit blieb Emma in ihrem alten Zimmer und Raphael packte seine gesamten Sachen mit in Elaines Zimmer.
Ihre neue Mitbewohnerin mit dem Namen Marina war wirklich eine sehr gute Wahl für ihre kleine Chaoten-WG. Denn Marina war zwar ordentlich, doch störte sich zumindest nicht an der kleinen Unordnung, die bei den anderen nicht wegzudenken war. Ganz im Gegenteil stellte sich schlussendlich heraus, dass Marina immer, wenn sie etwas aufregte begann, aufzuräumen. Diese Eigentschaft alleine machte sie schnell zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil ihrer Gruppe. Aber damit hörte ihre Suche längst noch nicht auf, denn ihre Wohnung war nun einmal nicht die billigste und die jungen Studenten konnten es sich einfach nicht leisten ein Zimmer leer stehen zu lassen. Somit stellten sie immer wieder Anzeigen in die Zeitung und hängten Zettel an unterschiedlichen Orten aus.
Es kamen relativ viele zum Vorstellungsgespräch, aber nicht einer kam für die Vier in die engere Auswahl. Dann kam auf einmal von Marina die Nachfrage, ob ihr Cousin nicht bei ihnen einziehen könnte, da dieser vor ein paar Tagen aus seiner Wohnung geflogen war. Auch ihr Cousin musste sich natürlich vorstellen, doch eigentlich war schon bei der Begrüßung klar, dass er das gesuchte Mitglied ihrer Gemeinschaft war. Er war vielleicht das genaue Gegenteil zu der organisierten, eher stilleren Marina, doch seine jugendliche, leicht verrückte Art musste man einfach gern haben. Für Elaine war schnell sichtbar, dass sich ihr Ehemann und er prächtig verstehen würden.
Mit Julius kam auf jeden Fall viel Schwung in ihre Bude. Plötzlich gingen die fünf am Wochenende so gut wie immer mindestens einmal am Wochenende aus und nicht selten wurden neue Unibekanntschaften am Abend eingeladen. Den Mädchen gefiel der Trubel. Vor allem fand Elaine, dass genau dieser Trubel ihrer besten Freudin mehr als nur gut tat. Schnell war ihr nämlich aufgefallen, wie sehr dieser ihr Freund doch fehlte. Seine Universität lag aber nun einmal in Köln und lebte somit viele Stunden von seiner Freundin entfernt. Elaine wusste nicht, wie lange die beiden es schaffen würden, denn die Entfernung setzte beiden eindeutig stark zu. Doch gleichzeitig wünschte sie ihnen eigentlich, dass sie zusammen blieben, da sie einfach für einander bestimmt waren. Zumindest meinte sie das.
Mit ihrer Mutter blieb Elaine ständig im Kontakt. Jeden zweiten Tag telefonierten sie und am Wochenende skypten sie regelmäßig. Ihrer Familie hatte sie gegen dem Wunsch ihrer Mutter noch nichts von ihrem Treffen erzählt. Irgendwie traute sie sich nicht. Ihrem Vater ging es immer schlechter. Denn ihre Werte fielen rapite. Die Therapie schlug nur noch schlecht bei ihr an und selbst ihr Arzt bezweifelte langsam, ob sie wirklich noch ein halbes Jahr hatte. Bald würde sie mit ihrem Vater über ihre Entscheidung sprechen müssen, denn die zeit wurde ihr langsam knapp. In zwei Wochen würde der Oktober beginnen und dann waren es nur noch zwanzig Tage. Raphael war bisher immer noch die einzige Person, die von diesem Plan Bescheid wusste. Er hatte ihre Entscheidnung respektiert, dass sie es noch nicht der Welt offenbaren wollte. Insgesamt war er ihr in den letzten Wochen zu ihrer größten Stütze geworden. Jeden Samstagvormittag begleitete er sie zum Krankenhaus und verbrachte die Stunden dort mit ihr gemeinsam.
Seine Liebe umhüllte sie jede Sekunde des Tages und allein der Gendanke ihm wehtun zu müssen, brachte sie halb um. Aber ihm schien es nicht so viel auszumachen. Nur wusste sie auch, dass ihr Mann fantastisch darin war, seine Gefühle vor ihr zu verstecken, zumindest die Schlechten.
Es fehlten nur noch zehn Wünsche. Zehn Wünsche und zweiunddreißig Tage. Langsam drehten sich ihre Gedanken immer mehr um ihren Tod. Er wurde irgendwie allgegenwärtig und sie war sich unsicher, wie sie damit umgehen sollte.
Aber nicht nur sie hatte Angst. Bei ihr war es die Angst der Ungewissheit und bei ihren Familienmitgliedern war es allein die Angst vor dem Verlust. Jedem war von ihnen klar, dass ihr Tod ein Loch in ihrem Leben hinterlassen würde. Dies geschah schließlich immer, wenn eine geliebte Person starb. Elaine hatte dieses Gefühl erst einmal erlebt und das war bei dem Tod ihrer Großtante Elisabeth.
Tante Lisa war die jüngere Schwester ihrer Großmutter und bevor ihre Großeltern nach Afrika gezogen waren, hatte Tante Lisa mit bei ihnen im Haus gelebt. Auch wenn die Kinder der Familie Engel stets Tante zu ihr gesagt haben, so war sie doch wie eine zweite Großmutter für die Drei gewesen.
Die alte Frau war eine wirklich sportliche vierundsechzig Jährige bei ihrem Tod gewesen. In Elaines Erinnerungen war sie die hilfsbereiteste und freundlichste alte Dame der Welt gewesen. Selbst als sie gestorben ist, hatte sie jemandem geholfen. Denn sie wurde von einem Auto überfahren, als sie ein kleines Kind von der Straße geschubst hat. Also hatte sie dem kleinen Jungen das Leben gerettet und war dabei überfahren worden. Es war eine schöne Art sein Leben zu geben. Jeder, der sie kannte, war sich damals sicher gewesen, dass sie ihren Tod als gut empfunden hatte. Doch das Loch hatte sie dennoch hinterlassen.
Ihr Vater ging jedes Jahr an ihrem Todes- und auch an ihrem Geburtstag zu ihrem Grab. Nie hatte Elaine ihn dabei begeitet. Sie hasste den Friedhof. Genau wie sie den Tod selbst nie gemocht hatte.
Jetzt, wo sie selbst kurz vor dieser Schwelle stand, musste sie zuminendst einmal in ihrem Leben noch das Grab ihrer Großtante sehen. So stand sie also zweiunddreißig Tage vor ihrem eigenen Todestag vor dem Tor zum Friedhof in Laatzen.
Den Weg hierhin hatte sie alleine unternommen. Auch wenn Raphael ihr mehr als nur einmal angeboten hatte mitzukommen, dies war eine der Dinge, die sie selbst ohne Hilfe unternehmen musste. Die Lilien in ihrer Hand waren frisch und wunderschön. Es waren die Lieblingsblumen von Elisabeth gewesen.
Das Tor war schwer und sie musste so einiges an Kraft anwenden, um es zu öffnen. Auch wenn es sie anstrengte, schaffte sie es schlussendlich. Ohne jemals hier gewesen zu sein wusste sie dennoch genau, wo sie hinmusste. Ihr Vater hatte ihr den Weg in der Vergangenheit immer wieder erklärt in der Hoffnung, dass sie ihn irgendwann doch mit ihm unternehmen würde.
Der Grabstein ihrer Tante war hell und das Grab sah gepflegt aus. Mehrere Blumen waren auf der Erde gepflanzt. Vorsichtig legte Elaine ihren Strauß dazu. Dann blickte sie einfach weiter hinab.
Irgendwann begann sie ohne Nachzudenken an mit ihrer Tante zu reden. Sie erzählte ihr alles Mögliche und dabei verstand sie, wie man mit dem Tod einer Person umgehen konnte. Wie eine Person auch nach ihrem Tod noch bei einem bleiben konnte.
All diese Dinge schaffte man dadurch, dass man sie nicht vergaß, sondern in seinem Herzen in Erinnerung behielt. Diese Stunden, die sie am Grab verbrachte, gaben ihr eine gewisse Sicherheit. Ihre Familie würde es schaffen. Ihre Freunde würden es schaffen, jeder würde es schaffen mit ihrem Tod auf seine Art und Weise klar zu kommen. Jetzt musste es eigentlich nur noch soweit kommen.

How I would like to say GoodbyeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt