Besessen

Kapitel 61

Angestrengt verzog ich das Gesicht und grübelte vor mich her.

Marvin, Marvin, Marvin.

Irgendetwas sagte mir dieser Name, die Erkenntnis war so nah vor mir, das konnte ich spüren, dennoch konnte ich sie nicht erreichen. Und das brachte mich zur Weißglut! Ach man!

Das Tuten der grünleuchtenden Fußgängerampel zog mich aus meinen nervenauftreibenden Grübeleien. Ich setzte meinen Weg quer über die Straße fort, was mir eine Horde Menschen gleichtat. Ich sah auf die Uhr. Ich musste mich etwas beeilen.

Komm schon, Caprice. Denk nach.

Doch so sehr ich mich bemühe, ich konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen. Was blockierte mein Gedächtnis? Vielleicht irrte ich mich auch und ich hatte zuvor den Namen Marvin nie ghört, bildete mir nur etwas irrsinniges ein. Ich versuchte, nicht mehr an ihn zu denken, konnte meine Gedanken aber nicht von ihm lösen.

Zu sehr war ich in meinen Gedanken vertieft, um zu merken, dass die nächste Fußgängerampel Rot leuchtete. Zu sehr war ich von seinem Gesicht abgelenkt.

Ich setzte meinen Fuß auf die Fahrbahn und hörte nur in den hintersten Ecken meines Kopfes Stimmen, die schrien: ,,Bleib stehen." Aber vielleicht waren es auch die Stimmen der Menschen, die hinter mir standen. Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht einmal, dass ich soeben meine Unterschrift unter mein Todesurteil geschrieben habe. Mit Schreibschrift und verzierten Buchstaben. Blumig. Total paradox. Ich merkte es nicht einmal.

Die Taubheit ließ in Zeitlupe nach und ich war gerade dabei aus meiner verträumten Welt zu erwecken und auf die Fahrbahn zu sehen, als ich mit einem heftigen Griff nach hinten gezogen wurde. Mein Oberarm wurde von einer großen, starken Hand umschlossen. Es wirkte solch eine Kraft, dass ich noch in der Schockbewegung nach hinten mit einem Schauer durchzogen wurde. Beinahe fiel ich rückwärts, konnte mich aber gerade noch aufden Beinen halten. Blitzschnell löste sich die Hand von meinem Arm und verschwand. Ich drehte mich um, aber sah nur Oberkörper fremder Menschen. Keiner sah mich an und gab mir das Signal, dass man mir geholfen hatte. Hier war niemand, aber doch waren es so viele Menschen.

Auf einmal schoss ein Auto mit um die 60km/h an mir vorbei und riss mich erneut auf meiner Trance. Erschrocken schaute ich zurück auf die Straße und realisierte erst jetzt, dass sich soeben jemand mein Todesurteil geschnappt und es zerrissen hatte. Jemand fremdes hat mir soeben Jahre im Krankenhaus erspart. Wenn es überhaupt noch Jahre gewesen wären. Wohlmöglich sogar nur Stunden oder Minuten.

Oh Gott.

Mein Herz raste und noch einmal schaute ich zurück zur Masse, sah aber immernoch nur graue Fratzen von Gesichtern. Keiner, der zu mir blickte. Keiner, dem ich meinen Dank aussprechen konnte. So merkwürdig.

Es wurde wieder Grün und diesmal versicherte ich mich zwei mal, dass die Ampel die richtige Farbe hatte. Ich sollte mich mehr auf meine Umwelt fokussieren, um in dieser Welt zu überleben. Schritt für Schritt überquerte ich die Straße und war froh, als ich den sicheren und breiten Bordstein unter meinen Füßen spürte. Ich atmete einmal tief durch und setzte meinen Weg Richtung Fußbängerzone fort. Ich wollte gerade in die nächste Gasse einbiegen, als mein Handy vibrierte, was mich es zücken ließ. Mit der Annahme, es sei mein Vater oder Nick, begutachtete ich den Bildschirm. Ich verzog leicht meine Augenbrauen. Ich kannte diese Nummer nicht. Ich tippe auf die Nachricht.

*Pass das nächste mal auf, wohin du gehst*

Wer war das? Etwa Nick? Und hat er das von gerade gesehen? Aber wieder wieso sollte er mit einer anderen Nummer schreiben oder mir nicht mal Hallo sagen, wenn er mich doch gesehen hat? Aber wenn das nicht Nick war, wer war es dann? Bittersüße Angst kroch aus meinem Herzen hervor und breitete sich immer mehr in meinem Körper aus. Woher hatte diese Person meine Nummer?