Kapitel 64

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Ich wollte nur noch weinen, meinen Tränen freien Lauf lassen. Völlig fertig mit den Nerven nahm ich zunächst auch nicht Nicks Hand entgegen, die er mir hinhielt, nachdem er Worte ausgesprochen hatte, die mein Kopf einfach nicht aufnehmen wollten. Als wäre ich taub. Weil er irgendwann zu lange warten musste, schnappte er sich einfach meine Hand und zog mich hinter sich her. Bevor wir das Zimmer jedoch verlassen konnten, stemmte ich meine Füße gegen den Boden und schaute noch einmal zurück zu meinem Dad. Es schmerzte, ihn so am Boden liegen zu sehen. Was auch immer er mir jemals angetan hat, er war und würde mir nie egal sein. Ich war immernoch seine kleine Tochter. Tief in seinem Inneren. Hoffte ich jedenfalls.

Nick schien voller Ungeduld zu sein, denn schlussendlich packte er mich an meiner Hüfte und hob mich hoch. Ich saß nun auf seinen Hüften und schlang reflexartig meine Arme um seinen Nacken, um mir Halt zu geben. Nick unterstützte diesen Griff ebenfalls, indem er seine Arme um mich legte. Er lief weiter und bedrückt vergrub ich meinen Kopf in seinem Nacken. Über seine Schulter hinweg schaute ich noch ein letztes mal meinem Vater entgegen, der mich aus einem schmalen Spalt der Augenlider hindurch anschaute. Es war kein Blick, den man sich als Abschiedsgruß wünschen konnte. Nicht als letzter Augenkontakt. Nicht während einer blutend am Boden lag. Und vorallem nicht vom eigenen Vater. Vielmehr ein Blick, dem man seinem Feind schenken würde. Kühl und distanziert sah er mich an und meine Augen wurden immer wässriger, ehe Nick um die Ecke lief und ich somit meinem Vater vielleicht das letzte mal in die Augen sehen konnte. Eventuell würde ich mein Zuhause auch zum letzten mal betreten, also prägte ich mir jede einzelne Ecke ein, wenn Nick daran vorbeilief.

Plötzlich stieß mir unser kleines Familienfoto, welches auf der Kommode stand, ins Auge. Hektisch löste ich mich von Nick, der mich verwirrt von sich rutschen ließ. Holprig näherte ich mich dem Bild und packte es. Den lächelnden Gesichter meiner einst harmonischen Familie entgegenblickend spürte ich meinen Herzschlag, der sich pochend an meinem zugeschwollenen Hals bemerkbar machte. Unfähig, zu reden, ungriff ich es fester, sodass meine Knöchel weiß hervorragten, und drehte mich wieder zu Nick um, der inzwischen wieder auf mich zugekommen war. Er umgriff meine Wangen und zwang mich, ihn somit anzusehen. Ich fühlte seinen warmen Atem auf meiner Haut und beruhigte mich sogleich ein bisschen.

,,Honey, hör mir zu. Ich weiß, dass es leichter gesagt als getan ist, aber du musst anfangen, deine Familie zu vergessen. Glaub mir, alles wird einfacher, sobald man anfängt, selber die Distanz zu halten", flüsterte er mir zu.

Zweifelnd sah ich ihn an. Wie soll ich anfangen, zu vergessen?

Er schien meinen Blick zu bemerken, denn er intensivierte seinen. ,,Ich werde immer für dich da sein, selbst wenn du Freunde oder Familie verlierst", fügte er ernst hinzu und verschaffte mir eine wohlige Gänsehaut. Was machte dieser Mann nur mit mir?

~

,,Willst du Tee, Baby?" Ein stummes Kopfschütteln meinerseits stellte Nick jedoch scheinbar nicht zufrieden. ,,Kaffee?", hakte er weiter nach. ,,Kakao?" Von mir kam jedoch erneut ein verneinendes Zeichen, was ich frustriert aufseufzten ließ. Er hing seine Jacke über eine Lehne und krempelte anschließend seine Ärmel hoch, ehe er sich auf mich zu bewegte. Seine außergewöhnlichen Tattoos wurden freigelegt und hebten sich durch das schlichte helle Oberteil sehr ab. Ich schaute zu ihm hoch und verfolgte ihn mit meinen Augen. Nick blieb vor seiner Couch direkt vor meinen Füßen stehen, wodurch ich aus meiner sitzenden Position hoch sehen musste.

,,W-Was?"

Doch anstatt mir zu antworten, bückte er sich zu mir runter und stemmte seine Hände links und rechts neben mich, ehe er seine Lippen auf meine legte. Sanft bewegte er seinen Mund und fand mit meinen einen stillen Rhythmus. Ohne dass ich es wollte, gab ich mich ihm und seinen Bewegungen hin. Ich ließ mich führen und für ein paar Sekunden vergaß ich die Geschehnisse von zuvor.

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