Nur schwer war es, seine Worte aufzunehmen und zu verarbeiten. Mein Körper war kurz davor, ein Wimmern ertönen zu lassen, doch ich unterdrückte es, um ihm keine Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Stattdessen lösten sich jedoch stunme Tränen aus meinen Augen und verschwemmten meine Sicht. Die Türe vor meiner Nase begann sich zu bewegen.
,,D-Die Nachbarn haben d-die Schüsse gehört. Gleich wird-" ,,Schalldichte Wände, Bunny." Marvin lachte kehlig auf. ,,Du weißt wirklich gar nichts."
Er drehte mich aufeinmal schwungvoll um und sah mir tief mit seinen grauen Augen ins Gesicht. Gekonnt versuchte ich die Pistole, welche er sinken ließ, zu ignorieren, doch so ganz gelang es mir dann doch nicht. ,,Tränen stehen dir nicht." Die Provokation und sein Machtgefühl ließen ihn stark wirken, aber er war ein erniedrigendes Arschloch. ,,Pure Angst steht dir viel besser."
Ohne dass ich es wollte, zog ich mein Knie hoch zwischen seine Beine. Er zischte schmerzerfüllt auf und kniff seine Augen zusammen. Wie im Film müsste er jetzt zusammensacken und ich könnte in der Zeit fliehen und mich in Sicherheit bringen. Doch die Realität war nun mal beschissen. Bevor ich nämlich überhaupt zu einer Flucht ansetzen konnte, packte er mich an meinem Oberarm und Hals. Er drückte nur leicht mit seinem Daumen zu, sodass ich nur erschwert Luft bekam, aber trotzdem atmen konnte. Er ließ mich leiden.
,,Du kleines dummes Mädchen", knurrte er und starrte mich lüstern an. ,,Dein ach so toller Nick verheimlich dir viel zu viel." Er löste seinen Daumen, was mich erleichtert aufatmen ließ und wanderte mit seiner Hand an meine Wange. Sie blieb dort liegen, während sein Daumen sanfte Bewegungen machte und eine brennende Ölspur hinterließ. Meine Haut brutzelte unter ihr. ,,Ich weiß gar nicht, wer dümmer ist. Er, weil er so einem jungen unerfahrenen Mädchen wie dir etwas vorspielt, oder du, weil du darauf hineinfällst."
Ich kniff meine Aigen leicht zusammen und schaute ihn von unten aus böse an. ,,Hör auf, so einen Unsinn zu erzählen. Nur weil ihr euch nicht leiden könnt, bedeutet das nicht, dass du ihn so schlecht reden musst", äußerte ich angesäuert. Was bildete er sich auch ein?
Er wedelte mit der Pistole noch einmal vor meiner Nase herum, um seine leider bestehenden Möglichkeiten zu demonstrieren. ,,Schon vergessen? Hast du schon mal eine Knarre als normalen Alltagsgegenstand gesehen?", fragte er ironisch. ,,Und du glaubst, ich besitze eine zufällig? Ich sag dir mal was Schätzchen." Er näherte sich meinem Gesicht und engte mich ein. Das Atmen fiel mir trotz des verschwundenen Griffes um meinen Hals sehr schwer. ,,Es hat einen Grund, dass ich eine besitze. Es hat einen Grund, dass ich nach Kameras suche und warum es welche in dieser Wohnung gibt. Also glaub mir: Es gibt einen verfickten Grund, warum ich hier bei dir bin und zur Wohnung meines verhassten Bruders komme." Ich biss mir auf meine erhitzten Lippen. Ich betete, dass er einfach ging und mich alleine ließ.
Ohne das Gerät der Hölle zu beachten, guckte ich Marvin intensiv an. ,,Wirst du mich umbringen?", fragte ich voller Monotonie und ohne Aktionismus. Er grinste böse und schaute arrogant auf mich hinab. ,,Wenn du das willst, klar, Mäuschen." Ich schloss kurz meine Augen und öffnete sie, nachdem ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Zunächst hatte er dies zumindest nicht vor.
Gott sei Dank löste er sich von mir und schaffte mir somit Freiraum, jedoch war ich zu gelähmt, mich zu bewegen. ,,Wir werden uns noch sehen."
Erstaunt beobachtete ich ihn, während er seine Jacke richtete. ,,D-Du gehst?", fragte ich dümmlich mit zittriger Stimme. Natürlich aus der großesn Hoffnung heraus. Schon wieder schmunzelte er provokant. ,,Möchtest du etwa, dass ich bleibe?" Hektisch schüttelte ich den Kopf, woraufhin er herzhaft lachte. Undzwar diesmal nicht kalt und gemein, sondern ehrlich. Sein Lächeln erreichte seine Augen für einen kurzen Moment.
Er war dabei, auf die Tür hinzuzuschreiten, weswegen ich einen Schritt zur Seite machte, als er plötzlich stehen blieb und sich zu mir drehte. ,,Ach ja, noch was." Marvins Mimik war wieder wie zuvor, welche den Raum voller negativer Assoziationen von der Athmosphäre füllte. Unterkühlt und doch so hitzig war es hier, was mich auf meine Innenseite meiner Wangen beißen ließ. ,,Vielleicht solltest du es mit deinen eigenen Augen sehen statt mit meinen. Denk daran: Es ist gefährlich, wenn ein Mensch herrscht, bevor er gelernt hat, sich selber zu beherrschen. Gib dich in Acht." Er drehte sich wieder nach vorne, bewegte sich jedoch noch nicht vorwärts. ,,Du scheinst jemand zu sein, der viel leichter einer Lüge glaubt, weil er sie schon hundertmal gehört hat, als die Wahrheit, die für einen völlig neu ist. Du willst sie nicht hören, aber sie wird dir später mehr ersparen."
Marvins Augen wurden träger und er blickte leer gerade aus.
,,Ich werde dazwischen gehen. Er schafft nicht noch einmal eine leere Stelle, ohne einen Nachfolger zu benennen."
Ich verstand kein Wort und war verwirrt. Was wollte er damit denn sagen? ,,Was meinst du damit?" Er schien wie aus einer Trance zu erwachen und reagierte. Seine männliche Stimme ließ mich erschaudern.
,,Naivität ist der grausamste Mörder, Caprice."
Damit ging er und ließ mich völlig alleine in der Wohnung stehen. Zum ersten Mal hatte er so meinen Namen ausgesprochen und ließ mich immer mehr an der Loyalität meiner Umwelt zweifeln, besonders der von Nick. Marvin schien so offen und berechenbar zum Schluss, was mich seinen Worten sofort Glauben schenken ließ.
Ohne groß darüber nachzudenken schloss ich die Haustür und lief den Gang entlang. Kurz machte ich Halt vor einer Türe, öffnete sie jedoch gleich danach und ging in den verbotenen Raum hinein. Der Schreibtisch war ähnlich unordentlich wie letztes mal und weckte erneut meine mörderische Neugierde. Wenn laut Marvin mir die Naivität das Leben rauben würde, dann würde ich handeln und mich lieber von der Neugierde und Gewissheit töten lassen.
Ich packte den Ordner auf dem Tisch und schlug ihn auf. Als ich die ersten Zeilen lesen konnte, weiteten sich immer weiter meine Augen. Ich schlug mir die Hand vor dem Mund.
Lauter Aufträge. Lauter Namen. Lauter Geldsummen. Lauter Gesetzesbrecher.
Mir wurde übel, aber ich war nicht in der Lage, den Ordner wegzulegen. Ich blätterte weiter.
Ein Bild. Ein Mann.
,,...wegen Geldhinterziehung und Verrat... gearbeitetet in Abteilung... in Auftrag bei Jason G. ... durchgeführt am 12.02... Zeugen..."
Ich bekam Tränen in den Augen und blätterte zittrig um. Mein Mageninhalt näherte sich gefühlt schon dem Eingang durch die Speiseröhre.
,,...in Auftrag bei Marc D. ... durchgeführt am 29.11... Intervenieren von Familienmitgliedern Kinder und Frau mit entsprechenden Folgen..."
Ich klappte das Buch zu und schloss angewidert die Augen. Das Stehen fiel mir schwer, weswegen ich mich vorsichtig hinsetzte. Ich ergriff die nächste Mappe und öffnete sie.
Ich stockte und augenblicklich wurden meine Augen wässriger und mein Mund staubtrocken.
Ein Bild von mir lag auf der ersten Seite und präsentierte vermutlich den Hauptinhalt.
Ich schluckte und blätterte weiter. Ich traute mich nicht, die Schriften zu lesen. Ich wollte meine kleine Welt nicht selber zum Einsturz bringen und stoppte deswegen in meiner Bewegung. Ohne es zu bemerken, rinnten lauter Tränen über meine Wangen und gewährten mir so auch nicht mehr die Möglichkeit, den Inhalt zu lesen.
Tief atmete ich durch. Ich war total fertig mit der Welt. Verzweifelt raufte ich mir die Haare. Verdammt, ich lebe mit einem Mörder zusammen. Ich hab einen Mörder meinen Vater niederschlagen lassen, ich habe mit einem Mörder zu Abend gegessen, ich habe einem Mörder mein Herz ausgeschüttet. Ich habe ihm doch tatsächlich die Türen zu meinem Herz geöffnet und nun bereue ich es. Es war eine dumme Idee, ein Fehler war es. Marvin hat so Recht, er hat mir die ganze Zeit etwas vorgespielt. Er war ein Psycho.
Ich stand auf und öffnete sämtlich Schubladen, fand jedoch nicht das, wonach ich suchte. Ich schnüffelte bei den Schränken herum und irgendwann fiel mir etwas ins Auge. Bestätigend beglückwünschte ich mich. Da lag doch tatsächlich eine weitere Pistole. Und erst jetzt realisierte ich, dass ich er mich die ganze Zeit hätte umbringen können. Nick hätte mir jeder Zeit nachts in den Schädel schießen können und auch sonstige Szenarien ersparte mir nicht mein innerer Teufel.
Meine Haare stellten sich auf, als ich das Türschloss klicken hörte.
DU LIEST GERADE
Besessen
RomanceSie lernt einen jungen Mann kennen. Dieser jedoch zeigt schon nach kurzer Zeit seine dominante, selbstsichere und einschüchternde Art, mit der das zurückhaltende Mädchen mit schlimmer Vergangenheit sehr zu kämpfen hat. Er will sie und lässt sie nich...