40 ~ Schlaflos

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Mit einem dumpfen Aufprall landete ich mit meinem Gesäß auf dem Boden. Reflexartig schaute ich mich um und stellte fest, dass ich mich wieder in dem Antiquariat befand. Zu meinem Glück war ich allein, also rappelte ich mich schnell auf. Als ich wieder auf zwei Füßen stand, bemerkte ich, dass Jack nur wenige Meter entfernt von mir stand, wo er lässig an einem Bücherregal lehnte. Ich hatte ihn gar nicht kommen gehört, aber anscheinend hatte das Portal mich nur wenige Sekunden vor Jack zu meinem Ziel befördert. Mir war es ein Rätsel, wie Jack es geschafft hatte, nicht sein Gleichgewicht zu verlieren.

»Das war ein Fehler«, sagte Jack.

»Was?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon ahnen konnte. Bereute er den Kuss? Eigentlich wollte ich die Antwort gar nicht hören, aber ich brauchte Gewissheit.

»Du hast Gefühle für Jared. Ich hätte dich nicht küssen sollen«, erklärte Jack.

»Ich habe kei– «, fing ich an, doch Jack unterbrach mich.

»Vielleicht solltest du deine Haare richten, bevor Lina und Jared uns erreichen. Du siehst zwar immer noch wunderschön aus, aber du hast ein echtes Taubennest auf dem Kopf.«

Ich fasste mir an die Haare. Zu meinem Bedauern musste ich feststellen, dass Jack recht hatte. Meine Haare standen in alle Richtungen ab. Verzweifelt versuchte ich, sie zu bändigen, doch schon tauchte Lina in meinem Blickfeld auf, dicht gefolgt von Jared.

»Das Portal war ganz schön langsam«, sagte Lina und strich sich ihre Kleidung glatt. Dann schaute sie zu mir und stieß einen kleinen Schrei aus. »Monday, was ist denn mit deinen Haaren passiert?«

»Der Wirbelsturm war sehr windig«, log ich.

Lina schaute mich zur Antwort bloß entsetzt an.

»Wo ist denn eigentlich die Bibliothekarin?«, fragte ich, um vom Thema abzulenken.

In dem Moment kam auch schon die alte Dame mit einem Stapel Bücher im Arm um die Ecke spaziert. »Ich war bloß im Lager, um ein paar Bücher zu sortieren«, sagte sie lächelnd. »Außerdem wollte ich schauen, wo sich denn hier in meinem Laden die Tauben herumtreiben.«

Ich schaute sie entgeistert an, doch sie zwinkerte mir bloß zu und stellte sich hinter die Theke, wo sie die Bücher ablegte,

»Na, Kinder, wie war euer Trip?«, erkundigte sie sich bei uns.

»Angenehm, so wie immer«, erwiderte Jack. So wie immer? Also war ein Kuss ganz normal für ihn? Ohne es zu wollen, fühlte ich mich gekränkt.


Als ich neben Lina in ihrem übergroßen Bett lag, konnte ich noch lange nicht schlafen. Nach dem anstrengenden Tag in der Hölle war ich sehr müde, aber meine Gedanken kreisten wie der Wirbelsturm im Portal um mich herum und ließen mir keine Ruhe.

Linas und Jacks Eltern hatten uns sehr freudig begrüßt, als wir bei ihnen Zuhause angekommen waren. Sie waren erleichtert gewesen, dass ich alles überlebt hatte und wir heil angekommen waren. So eine Zuneigung von Eltern war ich nun schon lange nicht mehr gewöhnt. Nicht, seitdem Daddy gestorben war und schon gar nicht von Evelyn. Findus und Thais – ja, so hieß Jacks und Linas Mutter, nicht Kreis, wie ich vorher angenommen hatte – liebten ihre Kinder über alles. Eine heile Familie wie diese war ich überhaupt nicht mehr gewöhnt.

Aber vielleicht konnte meine Familie wieder heil werden? Jetzt, wo ich wusste, dass ich tatsächlich ein Halbdämon war, konnte ich mir sicher sein, dass Evelyn nicht meine leibliche Mutter war und mein Traum wahre Erinnerungen gezeigt hatte. Wednesday, meine echte Mama, war vielleicht noch irgendwo da draußen und fragte sich gerade, wo denn ihre Tochter gerade stecken könnte. Selbst wenn sie nicht mehr auf der Erde weilen würde, so wäre sie noch immer einer der Schatten in der Hölle.

Sie könnte überall sein. Wo sollte ich anfangen zu suchen? Würde ich sie jemals finden?

Ohne zu wissen, wo meine Mutter war, konnte ich nicht in Ruhe schlafen. Meine Mutter, welche damals von meinem Vater vertrieben wurde, bloß weil sie ein Dämon war. Etwas, wofür sie nichts konnte. Sie hatte mich geliebt, vielleicht sogar mehr als Daddy mich jemals geliebt hatte. Und er hatte sie mir genommen. Er hatte mir vorgespielt, dass Dämonen böse Wesen waren und dass es keine andere Möglichkeit gab, als sie zu töten. Aber Dämonen waren so viel mehr als bloß Kreaturen der Hölle. Ich verspürte einen plötzlichen Ärger gegenüber meinem Vater.

Vielleicht war sein Tod ja verdient.

Nein! So etwas durfte ich nicht denken. Ich liebte ihn, auch jetzt noch, wo ich wusste, wie falsch er gehandelt hatte.

Ich spürte, wie mir wieder die Tränen aufstiegen. Ich drehte mich auf die Seite und versuchte sie zu unterdrücken, denn hier konnte ich nicht weinen und riskieren Lina aufzuwecken. Doch ich war nicht stark genug. Die Tränen kamen, eine nach der anderen liefen sie mir über die Nase und befeuchteten das Bettlaken.

Daddy hatte mir meine Mama genommen. Hätte er nicht diesen Hass gegenüber den Dämonen gehabt, dann wäre so etwas nicht passiert. Hätte er diesen Hass nicht gehabt, so wäre er nie bei einem Dämoneneinsatz ums Leben gekommen. Ich hätte Aleksej nie kennengelernt und hätte meine Eltern bei mir gehabt, meine glückliche und heile Familie. Aber nun hatte ich nichts. Bloß die leise Hoffnung darauf, dass ich meine Mama finden würde.

Aleksej, er wurde von Dämonen umgebracht. Aber es war nicht die Schuld der Dämonen gewesen. Bloß ein einziger Dämon, welcher sauer auf Aleksej gewesen war. Und wer weiß, vielleicht war es nicht einmal die Schuld des Dämonen gewesen, dass Aleksej gestorben war. Aleksej war schließlich derjenige gewesen, der den Dämonen gejagt hatte und töten wollte. Was hätte der Dämon denn machen sollen, außer Aleksej umzubringen? Hatte er überhaupt eine andere Wahl gehabt?

Wir, die ach so tollen Dämonenjäger, gaben den Dämonen doch gar keine andere Wahl, als zurückzuschlagen. Wer würde sich schon freiwillig niedermetzeln lassen ohne sich zu wehren?

Ich fühlte mich gleichzeitig böse und dumm. Nie, nicht ein einziges Mal, hatte ich hinterfragt, ob es denn richtig war, was ich tat. Ich war immer davon ausgegangen, dass die Dämonen böse waren, hatte ihnen keine Chance gegeben zu reden, bevor ich sie tötete. Die Welt war nicht nur schwarz und weiß, wie Daddy es mir gelehrt hatte. Sie bestand aus Graustufen. Und hätte ich das eher erkannt, dann hätte ich Daddy auf den richtigen Weg bringen können und er wäre vielleicht noch am Leben. Es war meine Schuld, dass er gestorben war, meine eigene Blindheit.

Monday - Dämonen der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt