66 ~ Zombies

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Die Nacht verbrachte ich spontan bei Lina und Jack Zuhause. Um die Eltern nicht zu wecken, schlichen wir auf Zehenspitzen durch den Flur, bis Jack sich von uns trennte, um zu seinem Zimmer zu gehen. Er hatte angeboten, dass ich bei ihm auf einer Isomatte schlafen könnte, aber da war mir Linas Bett lieber.

Als wir die Tür hinter uns schlossen, traute ich mich endlich zu reden.

»Warum hast du eigentlich Hugo nicht mitgebracht?«, fragte ich, froh, dass sie es nicht getan hatte. Dennoch wunderte ich mich, dass nie Jungs bei ihr übernachteten.

Lina kramte in ihrem unordentlichen Kleiderschrank herum und warf mir einen pinkfarbenen Pyjama hin. Das Unterteil war, nach meinem Geschmack, viel zu kurz, aber immerhin schien das Top lang genug. Zumindest bedeckte es meinen ganzen Bauch.

»Dieser Junge!«, erwiderte Lina mürrisch, während ich mich umzog, um den Schlafanzug anzuziehen. »Er war so nervig. Als du weg warst, habe ich ihm so oft Andeutungen gegeben, dass er gehen soll, aber er ist einfach hängen geblieben, wie eine Klette.«

»Ach, du mochtest ihn auch nicht? Warum hast du ihm dann nicht klipp und klar gesagt, dass du nichts von ihm willst?«

»Das kann ich doch nicht. Es hätte ihn verletzt.«

Ich ließ mich, endlich umgezogen, auf das Bett fallen. »Ach, Lina, du bist viel zu lieb.«

»Na ja, er ist nicht so wichtig«, meinte Lina. »Kannst du die Nachttischlampe anmachen?« Ich suchte den Knopf und Lina kam, nachdem sie das Deckenlicht ausgemacht hatte, zu mir ins Bett gekrabbelt.

»Lass uns jetzt schlafen, damit du mich im Traum besuchen kannst«, sagte sie. »Ich will unbedingt prüfen, ob ich mit meiner Theorie zu deiner Begabung recht hatte. Mensch, das wäre so cool!«

»Okay«, flüsterte ich. »Gute Nacht, Lina.«

Gefühlt fünf Minuten später redete Lina erneut. »Ich kann nicht einschlafen!«, beschwerte sie sich. »Dafür bin ich viel zu aufgeregt.«

»Wenn du redest, dann wird das auch nichts mit dem Schlafen«, sagte ich und lachte.

»Sorry, ich bin ja schon leise«, murmelte Lina.


Pechschwarze Dunkelheit umgab mich. Wo war ich? Panik stieg in mir auf und ich schlug wild um mich, doch zu allen Seiten befand ich lediglich nichts. Es dauerte einen Moment, bis ich registrierte, warum ich hier war.

Lina. Ich wollte doch Lina besuchen.

»Lina!«, schrie ich ihren Namen aus Leibeskräften.

Diesmal gab es keinen fließenden Übergang. In dem einen Moment befand ich mich in der Dunkelheit, im nächsten blickte ich wie aus einem Schaufenster heraus auf eine Straße. Die Straße war gerade mal zweispurig und von hohen Häusern umgeben. In der Ferne konnte ich den Mond erkennen.

Lina stand, mit dem Rücken zu mir gedreht, vor einer Masse von Menschen mit roten Augen, welche mit ausgestreckten Armen auf sie zuliefen.

Die Menschen kamen von den umliegenden Häusern hinuntergesprungen, viele schritten die Straße entlang und einige sprangen über die parkenden Autos.

Lina war mit zwei Messern bewaffnet, die sie in einer kreisförmigen Bewegung durch die Luft schwingen ließ. Doch dies stoppte die anbahnende Menschenmasse nicht im Geringsten.

Das sind Zombies, stellte ich fest. Lina hatte, sofern das hier wirklich ihr Traum war, tatsächlich einen Zombietraum. Und diese Zombies waren schnell.

Dem ersten Zombie, der Lina zu Nahe kam, trennte sie sauber den Kopf ab, den zweiten beförderte sie, mit einem eleganten Messerstich in die Körpermitte, ins Jenseits und der dritte flog drei Meter durch die Luft, als sie ihn mit ihrem Fuß trat. Doch schnell wurden die Gegner zu viele.

Ich versuchte, meiner Freundin zu Hilfe zu eilen, doch kaum hatte ich einen Schritt getan, knallte ich mit voller Wucht gegen eine unsichtbare Gleisscheibe. Ein Schmerz ging von meiner Nase und Stirn aus und doch war kein Geräusch zu hören.

Obwohl Lina weiter fleißig Messerstiche und Tritte verteilte und sich wehrte, wie sie nur konnte, stürmten immer mehr Zombies auf sie zu, umzingelten sie und verdichteten sich so sehr, dass ich Linas Schopf kaum noch ausmachen konnte. Langsam aber sicher ging sie in der Zombiemasse unter.

Bis es geschah. Beinahe genauso wie damals, als sie mich vor den Dämonen gerettet hatte. Ein einziger großer Ruck ging durch die Zombies, ihre Köpfe neigten sich nach hinten und es schien, als würden sie einige Zentimeter vom Boden hochgehoben werden. Ein stetiger Strom an goldenen wabernden Seelen strömte von jede einzelnen der Zombies heraus bis hin zu dem Standpunkt, wo ich noch eben Lina gesehen hatte.

Es war eine gewaltige Menge an Seelen und ich hatte Angst, dass es zu viel für Lina werden würde. Beim letzten Mal war sie ja schon ohnmächtig geworden und diesmal waren es viel mehr. Ich hob meine Hände, bis sie die durchsichtige Glasfläche berührten und presste dagegen. Mein darauffolgendes Klopfen löste nicht das gewünschte Geräusch aus.

Der Seelenstrom verebbte genauso plötzlich, wie er gekommen war. Nacheinander fielen die Dämonen wie Dominosteine zu Boden. Ein Leichenfeld erstreckte sich, soweit das Auge reichte.

Es war schrecklich. Und mittendrin saß Lina, zwar nicht ohnmächtig, aber dafür am ganzen Körper zitternd. Ihre Gesichtsfarbe war beinahe so blass wie die weiße Haut der Zombies. Traurig ließ sie ihren Blick über die Leichen schweifen, bis sie auf einmal in der Bewegung erstarrte.

»Jack?«, rief sie mit brechender Stimme. Schwankend rannte sie los, stolperte jedoch dabei über einen toten Zombie und fiel der Länge nach in das Leichenmeer hinein. Sie erschauderte, dann krabbelte sie weiter, stützte sich mit Händen und Füßen auf den toten Gliedmaßen der Zombies ab, bis sie vor einer Leiche anhielt. Sie kniete sich davor und rüttelte an ihr. »Jack!«, schrie sie. Tränen liefen ihr in Strömen über die Wangen. »Jack, wach auf!«

Doch Jack würde niemals aufwachen, denn er war schon längst fort. Lina schüttelte Jack noch eine halbe Ewigkeit und schlug in einer verzweifelten Geste auf ihn ein, bis sie schließlich vollkommen aufgelöst von ihm abließ.

Mit ihrem tränennassen Gesicht starrte sie vor sich hin, schien ihre Umgebung ganz auszublenden. Und mit einem Mal waren es nicht mehr die Zombies, die dort auf dem Boden lagen.

Linas Aufmerksamkeit kehrte wieder in die Gegenwart zurück.

Ihr Blick fiel auf drei Personen, wovon eine gerade mal die Größe eines Kindes hatte.

»Mama? Papa? Egon?«, fragte sie, vollkommen verzweifelt. »Oh mein Gott, es ist alles meine Schuld. Ich habe euch umgebracht.«

Monday - Dämonen der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt