83 ~ Zurück zur Zelle

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Ich hatte keine Ahnung, ob es sich lohnen würde, sie anzulügen. Wusste sie schon von meiner Begabung? Vielleicht. Und wenn ja, dann wäre Jack wieder dran.

»Ich kann in Träume anderer Wesen wandeln«, sagte ich.

»Vielleicht wird uns das mal nützlich sein«, erwiderte die Frau. »Es ist nicht die aufregendste Begabung. Und vor allem nicht so praktisch wie die deiner Freundin Lina.«

»Wo ist Lina?«, fragten Jack und ich gleichzeitig.

»Ach, keine Sorge«, sagte die Frau lachend. »Sie gehört jetzt voll und ganz uns.«

»Was soll das heißen?«

Die Frau stand auf. »Es liegt nicht an dir, die Fragen zu stellen«, sagte sie im Herausgehen.

Es schien, als wäre die Befragung vorbei. Gleich würden sie mich entweder umbringen oder zurück in meine Zelle bringen.

Ich erinnerte mich wieder daran, was Tuesday gesagt hatte. Dass die Zellentüren sich von außen öffnen ließen. Ich durfte bloß nicht einschlafen, müsste gegen den Dämonen, der uns mit seiner Begabung schläfrig machte, ankämpfen.

Sobald die Tür aufging, spürte ich die anbahnende Müdigkeit. Zwei Wachen, wahrscheinlich dieselben wie auf dem Hinweg, kamen hinein.

Ich hielt die Luft an, doch ich merkte Schnell, dass ich dadurch die Müdigkeit nicht beseitigen konnte.

Also fing ich an, meine Hände zu Fäusten zu ballen und somit meine Fingernägel in die weiche Haut zu drücken. Schmerz würde mich vom Schlafen abhalten, so hoffte ich.

Es tat mir weh, und dennoch spürte ich, wie mir langsam die Augen zufielen, bis sie schließlich ganz geschlossen waren. Ich hatte durch das vorherige Aussaugen keine Kraft mehr und außerdem war ich so müde, so furchtbar müde. Bleib wach, bleib wach, bleib wach!, wiederholte ich wie ein Mantra, während eine Wache meine Fesseln entfernte. Meine Fingernägel bohrte ich so tief in meine Handinnenflächen, dass ich das Blut spüren konnte. Ich wollte wach werden, ich wollte schreien, ich wollte Tuesday befreien und Lina finden. Und doch spürte ich, wie mich die bleierne Müdigkeit überkam und letztendlich besiegte.


Ich rannte über eine Wiese, an der einen Hand Mamas haltend, in der anderen eine bereits ausgepustete Pusteblume. Es war warm, die Wiese war so schön, ich wollte für immer hier bleiben. Hier bei meiner Mama und meinem Papa, der mittlerweile auf der Bank lag.

Ich hörte ein lautes Zischen. Brannte es? Atemlos blieb ich stehen und schaute mich suchend um. Nein, es brannte nicht, das muss ein Vogel gewesen sein.

Dann nahm ich ein schleifendes Geräusch war.

Nein, das hier ist nicht echt. Ich muss aufwachen. Ich muss zu Tuesday. Zu Jack. Zu Lina!

Wach auf! Wach auf! Wach auf! Ich vergrub meine Fingernägel in meinen bereits blutenden Handflächen.

»Wach auf!«, schrie ich mich so laut an, dass Mama sich stirnrunzelnd zu mir drehte.

Meine wunderschöne Mama. Ich könnte sie den ganzen Tag angucken, so lieb habe ich sie.

Ich wandte mich ab und schüttelte meinen Kopf. Mama war nicht auf irgendeiner Wiese, sondern wahrscheinlich in einem Kerker. Und ich musste dahin zurück.

»Wach auf!«, schrie ich erneut aus Leibeskräften. »Wach verdammt nochmal auf!«


Ich spürte, wie ich an den Beinen, auf dem Rücken liegend, über den harten Boden gezogen wurde. Mein Kopf kam beim Fortbewegen schmerzhaft auf dem Boden auf, meine Arme waren seltsam verdreht, die Hände noch immer zu Fäusten geballt. Mühsam öffnete ich ein Augenlid, nicht weit, aber weit genug, um etwas zu sehen.

Wir waren am Anfang des Kellers. Oder mittendrin? Ich hatte keine Ahnung, aus welcher Richtung wir gekommen waren. Jedenfalls müsste ich bald etwas tun, bevor es zu spät war.

Wenn ich doch bloß nicht so müde wäre.

Ich schielte zu meiner Wache, dann zu der Wache, die vor uns lief und hinter sich her schliff. Wenn ich doch wüsste, wer von beiden diese Müdigkeit über uns brachte, dann könnte ich denjenigen zuerst ausschalten.

Das Problem war, dass ich keine Ahnung hatte. Ich war so schon unendlich müde, dass mein offenes Augenlid sich erneut schloss. Einen Dämon komplett auszusaugen, dauerte lang. Griff ich den falschen an, dann würde der andere Dämon merken, dass ich ihm standhalten konnte und mich wahrscheinlich mit mehr Kraft angreifen.

Dieses Risiko konnte ich nicht eingehen. Nein, sicherer wäre es, wenn ich zu Tuesdays Zelle rannte und ihr die Tür öffnete. Sie könnte mir helfen, mit ihrer Fähigkeit, zu Teleportieren.

Der Dämon vor uns hielt an, um eine Zellentür auf der linken Seite zu öffnen. Das hieß, sofern es sich um die selbe Zelle wie vorhin handelte, dass wir jetzt von der anderen Seite als dem Eingang gekommen waren. Tuesday befand sich demnach zwei Zellen weiter, von mir aus waren das vier.

Sollte ich jetzt gleich losrennen? Dann hätte ich allerdings einen größeren Abstand vor mir, als wenn ich darauf wartete, dass meine Wache mich bis zu meiner Tür brachte. Andererseits war die andere Wache zumindest gerade noch damit beschäftigt, Jack in seine Zelle zu werfen.
Nein, ich musste jetzt laufen.

Jetzt oder nie.

Mit der größten Wucht, wie sie mir aus dieser Position möglich war, trat ich meiner Wache in den Bauch. Diese schrie erschrocken auf und ich spürte, wie sich ihr Griff lockerte. Ohne weitere kostbare Zeit zu verschwenden, entzog ich ihr meine Beine, drehte mich auf den Bauch und sprang auf. Doch schon während ich sprintete, spürte ich, wie die Müdigkeit stärker wurde. Meine Beine waren schwer wie Blei. Ich merkte, wie mir vor Anstrengung die Schweißperlen kamen, als ich einen Fuß vor den anderen setzte. Mein Bein knickte ein und ich näherte mich dem Boden. Ich war so furchtbar müde, war wäre denn so schlimm daran, mich einfach hinzulegen?

Ich fasste nach der nächsten Zellentür, um mir Halt zu geben, dann rannte ich im Halbschlaf weiter. Die Dämonen waren direkt hinter mir, ich durfte jetzt nicht langsamer werden.

Ich überbrückte die letzten Meter, dann zog ich schwungvoll die Tür auf. Doch die Zelle war leer.

Monday - Dämonen der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt