70 ~ Flammenhorn

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Der Eingang der Bibliothek kam gerade in Sicht, als Jack mich ruckartig zur Seite zog.

»Was ist?«, fragte ich alarmiert, doch meine Antwort beantworte sich von selbst, als zwei feurige große Tiere direkt vor meiner Nase an mir vorbeirasten. Hätte Jack mich einen Moment später zurückgezogen, hätten sie mich überrannt.

Es sind Pferde, stellte ich auf den zweiten Blick fest. Aber nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Knochen und Flammen. Anstatt aus einem Körper bestanden die Pferde aus einem rußschwarzen Skelett, aus dem Flammen emporstiegen. Sie galoppierten so nahe an mir vorbei, dass ich die von ihnen ausgehende Hitze am ganzen Körper spüren konnte. So ähnlich wie bei einem Lagerfeuer, wenn ich früher Stockbrot gebacken hatte, wärmte es mich von vorne. Bloß war es extremer. Hinter ihnen war eine Kutsche gespannt.

»Was sind das für Pferde?«, fragte ich.

»Das sind keine Pferde«, behauptete Jack. »Das sind Einhörner. Hast du nicht die Hörner gesehen?«

»Nein, habe ich nicht. Und jetzt sind sie viel zu weit weg, als dass ich die Hörner noch sehen könnte.« Ich hielt inne. »Du verarscht mich doch, oder?«

»Hey, ich sag die Wahrheit! Aber wenn du mir nicht glaubst, dann schau eben beim nächsten Mal genauer hin. Wirst du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es die auch in fliegend gibt? Wie ein Pegasus.«

Ich boxte ihm gegen die Schulter und schaute den feurigen Pferden hinterher, bis sie um eine Ecke verstanden. Erst dann, wandte ich mich wieder Jack zu. »So, ich bin bereit. Wir können in die Bibliothek gehen«, sagte ich.


Reihen und Reihen von Büchern erwarteten uns, als wir die Bibliothek betraten. Und das war nicht einmal alles. Jack zufolge gab es fünf Etagen. Ich hatte keine Ahnung, wo wir bei dieser Auswahl von Büchern ein einziges Buch über Traumwandler finden sollten.

»Gibt es hier irgendwo eine Auskunft, die uns sagen kann, wo wir unser Buch finden?«, fragte ich Jack.

»Ja, klar. Aber ich denke, das finden wir schon von alleine.« Er zog mich, noch immer meine Hand haltend, durch die Regale hindurch zu einem Treppenaufgang und deutete auf die Beschriftung der Stockwerke.

»Etage Fünf«, las er vor. »Begabungen und Fähigkeiten von Dämonen und anderen Höllenkreaturen. Da müssen wir hin.«

Der Treppenaufstieg, den Jack dazu nutzte, um mir zu erklären, warum es in der Hölle keine Fahrstuhle gab, verging schnell. Ich hörte ihm nicht wirklich zu. Stattdessen fragte ich mich, was in dem Buch stehen könnte. Und ich dachte immer noch darüber nach, als wir auf der Suche nach dem Buch den fünften Stock durchquerten.

Unter anderem hoffte im Buch zu finden, wie ich die Träume anderer effizienter besuchen konnte. Ja, bisher hatte es mit dem Denken an die Person gut geklappt, aber immer hatte es nicht funktioniert. Letzte Nacht zum Beispiel. Nicht bei Mama und nicht bei Tuesday. Vielleicht war das mit dem Denken auch die einzige Möglichkeit und die beiden hatten lediglich nicht geschlafen. Ich wusste es nicht. Aber mit dem Buch würde ich es endlich herausfinden.

Jack ließ meine Hand los und hockte sich hin. Ich gesellte mich zu ihm und begutachtete das Regal vor unserer Nase.

»Wie jetzt, es gibt anderthalb Reihen zu Traumwandlern?«, fragte ich erstaunt. »Ich dachte, es würde gerade einmal ein einziges Buch geben.«

»Die Fähigkeit des Traumwandelns ist halt ziemlich beliebt«, meinte Jack.

Ich zog ein wahlloses Buch heraus.

»Traumwandeln leicht gemacht«, las ich vor. »Lerne alles von den ersten Anfängen des Traumwandelns bis hin zu den versteckten Gefahren. Hiermit wird dir das Praktizieren des Traumwandelns in nur einer Nacht gelingen. Das hört sich doch gut an.«

»Wir können es gerne ausleihen. Aber das hier«, er deutete auf ein Buch in der untersten Reihe, »hört sich auch interessant an.«

Die Kunst des Traumwandelns – Vorteile, die du nie für möglich gehalten hättest stand auf dem Buchrücken.

»Nehmen wir beide?«, fragte ich. »Was ist denn das Limit der Bücher, die man ausleihen kann?«

»Es gibt kein Limit«, erklärte Jack mit einem Lächeln. »Du kannst dich also vollkommen austoben.«

»So gerne lese ich nun auch nicht. Die zwei Bücher reichen. Hast du denn deine Kundenkarte dabei?«

Nun lachte Jack lauthals. »Was denkst du denn?«, sagte er schließlich, als er sich beruhigt hatte. »Wir sind hier doch nicht auf der Erde. Hier bezahlt man für die Anzahl der Bücher, die man ausleiht.«

Er nahm die beiden Bücher in seine Hand, griff mit der anderen wieder nach meiner und zog mich, den fünften Stock und die Treppe hinunter, zur Kasse. Ich mochte das Gefühl, mit ihm Händchen zu halten, auch, wenn er es nur tat, damit ich nicht verloren ging.

Die Kassiererin nahm unsere Bücher entgegen und scannte sie. »Zwei Kilowattstunden, bitte«, sagte sie.

Wie jetzt? Man bezahlt hier mit Strom?

Warum zum Teufel sollten Dämonen mit Strom bezahlen, wenn sie es in der Hölle nicht einmal schafften, Fahrstühle durchzusetzen? Die wurden doch bekanntlich mit Strom betrieben.

Meine Verwirrung wurde schnell aufgelöst, als die Kassiererin eine Hand auf Jacks Herz legte. Schwankend, sich stetig wie ein Meer aus Wellen vergrößernd und verkleinert, kroch seine goldene Lebensenergie ihren Arm hinauf. Sie war so schön, so wunderschön. Mein Griff um Jacks Hand verstärkte sich. Ich wollte nicht, dass er so für mich bezahlte, dass er ein Stück seiner Energie für meine Bücher hergab. Doch bevor ich mich beschweren konnte, war der Energieaustausch auch schon vorbei und die Kassiererin wünschte uns eine »ewige und feurige Nacht«.

»Das zahle ich dir aber zurück«, sagte ich zu Jack im Herausgehen.

»Nicht nötig«, meinte Jack und holte einen kleinen Beutel aus seiner Tasche hervor, um die Bücher hineinzutun. »Ich lasse mir von dir keine Lebensenergie geben, vor allem nicht, wenn es sich dabei um deine eigene handelt. Ein Wesen hast du ja noch nie ausgesaugt. Du brauchst es zwar nicht als Halbmensch, aber vielleicht solltest du das mal machen.«

»Warum sollte ich ein unschuldiges Wesen aussaugen? Was für einen Vorteil habe ich davon, wenn ich es nicht zum Überleben brauche?«

»Du wirst dadurch stärker«, erklärte Jack. »Außerdem würdest du dich mit mehr Lebensenergie nicht mehr so kalt fühlen. Die Erde wird zwar selbst mit mehr Energie nicht so angenehm wie die Hölle sein, aber du würdest nie mehr frieren müssen.«

»Ich brauche keine Seelen, um mich warm zu fühlen«, widersprach ich. »Dafür habe ich doch dich.«

Monday - Dämonen der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt