54 ~ Bist du Tuesday?

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Es war, als würde ich in den Spiegel gucken. Dort, nicht einmal zwei Meter von mir entfernt, saß ein junges Mädchen. Die brauen Augen und die winzigen Sommersprossen auf ihrer Nase waren ein genaues Abbild meiner selbst. Der einzige Unterschied war, dass ihre Haare ihr nur bis zur Schulter gingen und in einem pastelligen Rosa gefärbt waren.

Sie sah aus wie ich, bloß in cooler.

Und schöner.

Vielleicht lag es an ihrer Kleidung, einem geblümten Sommerkleid, oder auch an ihrer Haltung, wie sie starr nach vorne starrte, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Jedenfalls gab sie ein friedvolles Bild von sich, das einsame, wunderschöne Mädchen, das verträumt in die Lava schaute.

Ich schwamm auf den Gehweg zu und zog mich daran hoch, um mich daraufzusetzen. Das Mädchen schien mich gar nicht zu bemerken.

»Bist du Tuesday?«, fragte ich sie. Obwohl ich wusste, dass es nur ein Traum war, dass dieses Mädchen vor mir nicht echt sein konnte, spürte ich das dringende Verlangen, mit ihr zu reden.

Das Mädchen, das beinahe genauso aussah wie ich, verharrte einige Sekunden, bevor sie ihren Blick auf mich richtete. Ihre Augen weiteten sich bei meinem Anblick. »Das ist komisch«, murmelte sie, ohne auf meine Frage einzugehen. Ihre Stimme klang anders als meine, sie erinnerte mich irgendwie an Honig. Ein sanfter, aber dickflüssiger Honig. »Warum sehe ich mich selbst in meinem Traum?«

»Dies hier ist mein Traum«, korrigierte ich sie.

Das Mädchen sah mich nachdenklich an, kleine Falten bildeten sich zwischen ihren Augenbrauen. »Das kann gar nicht sein«, sagte sie dann. »Ich war zuerst hier.«

»Wenn das hier dein Traum ist, wie hast du dann überhaupt gemerkt, dass es ein Traum ist?«, fragte ich.

»Erstens verbennt die Lava nicht meine Klamotten.« Sie zog ihre Füße hoch und deutete darauf. Tatsächlich hatte sie noch immer ein Paar unversehrte Sandalen an. Ich blickte an mir selbst hinunter und entdeckte, dass auch ich eine Jeans und ein weißes T-Shirt trug. Das war mir gar nicht aufgefallen, vermutlich, weil ich viel zu sehr mit meinem Doppelgänger beschäftigt gewesen war, um das wahrzunehmen. »Und zweitens«, fuhr das Mädchen fort, »sehe ich mich selbst und ich weiß mit Sicherheit, dass ich keinen geheimen Zwilling habe.«

»Und wieso weißt du das mit Gewissheit?«, hakte ich nach.

»Ich habe eine Familie. Die hätten mir gesagt, wenn ich einen Zwilling hätte.« Wäre dies die echte Tuesday, dann könnte sie gar keine Familie haben. Daddy lebte nicht mehr und Mama... nunja, ich wusste nicht, wo sie war. Es überzeugte mich nur wieder darin, dass die Traumtuesday nicht echt war.

Ich wollte gerade etwas erwidern, als durch die ganze Traumwelt ein einziges Wort hallte. »Tuesday!«

Ich zuckte vor Schreck zusammen.

»Tuesday«, wiederholte eine Kinderstimme, deren Ursprung ich nicht ausmachen konnte. »Tuesday, Mama und Papa brauchen dich. Wach auf!«

Meine Zwillingsschwester, Tuesday zuckte entschuldigend mit den Schultern und die Traumwelt löste sich auf.

Ich driftete wieder in die Dunkelheit, in einen traumlosen Schlaf.


Ich musste bis zur ersten großen Pause warten, bis ich mit Lina über meine merkwürdigen Träume reden konnte.

»Meine Mama war da, sie hat mich besucht und mir von meiner Zwillingsschwester erzählt«, erzählte ich ihr. Wir saßen auf einer Tischtennisplatte auf dem Schulhof, der aufgrund des stürmischen Wetters sehr leer war. Die meisten Schüler hatten sich lieber in die Pausenhalle verkrümelt. Ich musste laut reden, beinahe schreien, damit Lina mich über den Sturm hinweg hören konnte. Doch das war mir lieber, als womöglich von anderen Schülern belauscht zu werden. »Sie meinte, ich solle Tuesday suchen, sobald es an der Zeit wäre und dann wurde alles schwarz und ein neuer Traum fing an. Ein Traum, in dem ich Tuesday sah. Ich glaube, das mit Mama war damals wirklich passiert, es wirkte so echt, wie die anderen Träume, die ich von der Vergangenheit habe. Aber das mit Tuesday, ich weiß nicht, was das war. Das muss mein Unterbewusstsein gewesen sein, das irgendwie versucht, mit den ganzen Informationen umzugehen.«

Lina sprang mit einem Satz auf und sah mich an, als hätte sie gerade einen Einfall gehabt. »Wie genau war der Übergang von den Träumen?«, fragte sie mit Aufregung in der Stimme. »Beschreib das mal genauer. Hast du an Tuesday gedacht, bevor du von ihr geträumt hast?«

»Ja, natürlich. Woran soll ich denn sonst denken, wenn meine Mutter mir gerade von ihr erzählt hat?«, erwiderte ich und erklärte, wie sich mein Traum aus der Dunkelheit heraus kristallisiert hatte.

Lina schien sehr erfreut. Als sie jedoch anfing zu sprechen, kam ein besonders gewaltiger Wind auf und verschluckte ihre Stimme. Ich konnte lediglich ihre aufgeregt umherschweifenden Arme und ihre Mundbewegungen sehen, doch leider war ich nicht imstande, ihre Lippen zu lesen.

»Was?«, fragte ich, als der Wind sich einigermaßen beruhigt hatte. »Ich konnte dich nicht richtig hören.«

»Oh mein Teufel, Monday!«, schrie sie und musste sich dabei sichtlich anstrengen, um über den Wind gehört zu werden. »Weißt du, was das bedeuten könnte?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich meine«, begann Lina, »du hattest doch schon länger diese Träume von deiner Vergangenheit, welche ja auch wirklich passiert sind und jetzt bist du womöglich in einem Traum deiner Schwester gelandet. Was, wenn das deine Gabe ist? Dass du jetzt nicht nur deine eigenen vergangenen Träume erleben kannst, sondern auch die Träume anderer Menschen und Dämonen?«

Ich war skeptisch. Das konnte doch nicht sein, oder? »Es könnte auch ganz einfach mein eigener Traum gewesen sein«, wandte ich ein.

»Ich habe von anderen Dämonen gehört, die das können. Und deren Beschreibung von dem Übergang von der Dunkelheit zu den Träumen hat sich ganz ähnlich angehört. Sie haben an die Person gedacht. Die können kontrollieren, ob sie vergangene Träume oder sogar Erinnerungen der anderen Person angucken oder sie die Person in ihrem jetzigen Traum besuchen. Monday, stell dir doch mal vor, was für Möglichkeiten du damit hast!« Als Lina meinen noch immer ungläubigen Blick sah, fügte sie hinzu: »Wir können es ja zumindest einmal ausprobieren. Wie wäre es, wenn du einmal Nachts bei mir schläfst und wir gemeinsam ausprobieren, ob du in meinen Traum eindringen kannst? Dann wüssten wir es mit Sicherheit.«

Wenn dies tatsächlich meine Gabe wäre, könnte ich Tuesday wieder besuchen. Und Mama. Ich könnte herausfinden, wo die beiden waren. Vorfreude baute sich in mir auf, doch ich unterdrückte sie sogleich. Ich wollte mir keine falschen Hoffnungen machen, nur um dann herauszufinden, dass ich Mama nie finden würde. Erst würde ich mit Lina ihre Theorie ausprobieren, dann durfte ich mich freuen.

»Okay, heute Nacht ist schlecht, dann wären wir am Freitag viel zu müde in der Schule. Wir können morgen Nacht deine Theorie testen«, willigte ich ein.

»Morgen geht nicht, da hat Jared doch Geburtstag. Aber spätestens am Samstag können wir es machen«, sagte Lina.

»Wie jetzt, Jared hat morgen Geburtstag? Wieso wusste ich nichts davon?«

Monday - Dämonen der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt