81 ~ Wo ist Lina?

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»Ist Wednesday zumindest in deiner Zelle?«, fragte ich.

»Keine Ahnung«, erwiderte Tuesday. »Es ist ja nicht so, als wüsste ich, wie sie aussieht. Und selbst wenn ich das wüsste, in dieser Dunkelheit kann ich sowieso nichts erkennen. Aber hier liegt definitiv ein Körper. Er reagiert nicht auf mich, obwohl ich ihn geschüttelt und ihm sogar eine Backpfeife gegeben habe, aber zumindest besitzt er noch einen Pulsschlag und atmet gleichmäßig.«

»Das ist gut. Vielleicht ist sie es ja wirklich.«

»Selbst wenn«, entgegnete Tuesday traurig. »Was nützt uns das, wenn wir nie wieder hier rauskommen?«

»Meine Freunde sind noch da draußen. Vielleicht rettet Lina uns ja noch.«

In dem Moment nahm ich ein zweites Paar Schuhe und ein schleifendes Geräusch auf dem Gang wahr. Dann wurde die Tür zu meiner anderen Seite aufgerissen und etwas, das sich verdächtig anhörte wie ein Körper, in die Zelle geschmissen. Mit einem lauten Knall fiel die Tür wieder zu.

»Jack? Lina? Seid ihr das?«, fragte ich und klopfte wie eine Wilde gegen die Wand. Niemand antwortete mir. »Meinst du, sie sind genauso bewusstlos wie Mama, oder wer auch immer die Person in deiner Zelle ist? Was haben sie mit denen gemacht?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Tuesday.

»Solltest du nicht wissen, was hier abgeht? Immerhin hat diese Frau jahrelang vorgegeben, deine Mutter zu sein.«

»Wie du sicher schon festgestellt hast, hat sie mir diesen Part verschwiegen«, entgegnete Tuesday schnippisch.

Schweigend lehnte ich mich gegen die Wand und hoffte, dass Lina oder Jack, oder wer auch immer gerade neben mir eingetroffen war, endlich aufwachen würde.

Ein paar Minuten waren vergangen, als ich es neben mir rascheln hörte.

»Scheiße, wo bin ich?«, kam Jacks heisere Stimme von nebenan. »Lina? Linaaa? Wo bist du?«

»Jack!«, rief ich. »Wir sind hier!«

»Monday?«, fragte Jack. »Was ist das hier? Es ist so hart. Warum ist es so dunkel? Und wo ist Lina?« Ich meinte, einen kleinen Hoffnungsschimmer in seiner Stimme zu hören. Es tat mir im Herzen weh, ihm diesen nehmen zu müssen.

»Wir sind im Keller. In den Gefängniszellen«, erklärte ich. »Ich weiß nicht, wo Lina ist. Was ist denn passiert?«

»Wir sind nach links gegangen, wie ihr es gesagt habt. Aber da war keine Treppe, der Gang endete in einem großen Raum.« Jacks Stimme zitterte leicht. »Der Raum war voller Dämonen. Lina hat angefangen, ihnen allen die Seele auszusaugen. In dem einen Moment war ich noch hellwach, dann wurde ich schläfrig, bis mir schließlich ganz schwarz vor Augen war. Oh mein Gott, ich weiß nicht, wo Lina ist, ich weiß es einfach nicht.«

Seine Stimme klang nun schrill, verzweifelt.

»Was, wenn ihr etwas passiert ist?«, fuhr er fort. »Meinst du, sie haben sie getötet? Scheiße, ich weiß nicht, ob ich das aushalten würde.« Ein leises Wimmern kam aus seiner Zelle, es wurde immer lauter, ging in ein Schluchzen über.

Wie gerne hätte ich Jack in den Arm genommen, ihm versichert, dass alles gut werden würde, aber diese Sicherheit hatten wir nicht. Ich selbst hatte Angst, dass Lina etwas zugestoßen war. Warum hatte diese Organisation nur Jack eingesperrt, aber nicht seine Schwester? Der einzige Grund, der mir dafür einfiel, war, dass sie es nicht mehr brauchten. Weil Lina womöglich... Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich wollte gar nicht daran denken.

»Lina geht es bestimmt gut«, sagte ich, aber mehr, um mich selbst zu überzeugen. »Sie würden ihr nichts antun.«

Drüben konnte ich noch immer Jack weinen hören.

»Tuesday, wir müssen hier raus«, meinte ich bestimmt. Wenn Lina noch nicht tot war, dann würde sie es bald sein. Und daran konnte ich nicht denken. Ich musste doch irgendetwas unternehmen, um ihr zu helfen! »Kannst du dich nicht irgendwie durch diese Silberwände hindurch teleportieren? Vielleicht, wenn du dich ganz doll anstrengst?«

»Wenn ich die Tür nur einen Spalt breit öffnen könnte...«, murmelte Tuesday und trommelte erneut gegen ihre Tür. »Aber sie bewegt sich kein kleines bisschen, wenn ich gegen sie schlage. Sie hat ja nicht einmal ein Schlüsselloch. Selbst das hätte ausgereicht, um dieser Zelle zu entkommen. Aber du weißt, was das heißt, oder?«

»Nein.« Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte. Mein einziger Gedanke lag darin, dass ich schnellst möglichst Lina retten musste. Aber wie? Ich wusste es nicht.

»Diese Türen haben von außen kein Schloss«, flüsterte Tuesday. »Zwar sind sie gegen jegliche Dämonenfähigkeit geschützt, aber wenn nur einer von uns draußen ist, dann kann er alle befreien.«

»Aber warum sollten sie einen von uns rauslassen?«, fragte ich.

»Weil sie etwas von uns wollen.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ansonsten hätten sie uns schon längst umgebracht. So wie eure Freundin Lina.«

»Lina ist nicht tot! Sie darf es nicht sein!«, entgegnete ich. »Sie würde sich nicht so einfach besiegen lassen. Solange sie noch lebendig da draußen ist, besteht noch Hoffnung für uns. Außerdem, warum sollte diese Höllenorganisation sie umbringen, wenn sie etwas von uns wollen. Von uns allen ist sie am nützlichsten.«

»Und am gefährlichsten«, sagte Tuesday. »Denk dran, sie wollten dich umbringen, nur weil du nicht empfindlich auf Silber reagiert hast. Ich könnte es verstehen, wenn sie Lina als erstes loswerden wollen.«

»Pssst, jemand kommt«, flüsterte ich, als ich wieder, abgesehen von den Schritten des Wachmanns, ein weiteres Paar hörte.

Nein, nicht nur ein Paar, sondern mehrere!

Wenig später wurde meine Zellentür aufgerissen. Ich nahm noch vage die Umrisse der zwei Gestalten vor mir wahr, dann wurde mir schwindelig. Ich wurde immer müder und müder, bis ich schließlich wie eine Marionette zu Boden fiel.

Monday - Dämonen der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt