73 ~ Das erste Traumbuch

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Seitdem ich Jack erzählt hatte, dass ich es endgültig mit Jared beendet hatte, strahlte er wie ein Honigkuchenpferd. Seine Freude schien er noch immer nicht unterdrücken zu können, als wir Linas Zimmer betraten.

»Cool, ihr seid wieder hier«, begrüßte uns Lina. Sie saß auf ihrem Bett, auf dem sie eine große Tagesdecke ausgebreitet hatte. »Seid ihr Jared begegnet? Er war vor einer halben Stunde hier und hat nach dir gefragt, Monday.«

»Ja, und ich habe ihm das Herz gebrochen«, erwiderte ich scherzhaft. »Jack und ich haben ein paar Bücher aus der Hölle ausgeliehen und wollen jetzt gucken, ob wir mehr über meine Begabung herausfinden können. Willst du uns helfen?«

»Ja, klar«, sagte sie und klopfte neben sich aufs Bett. »Setzt euch doch!«

Jack nahm sofort auf der Bettkante Platz und holte die Bücher hervor. Ich setzte mich im Schneidersitz neben Lina hin. Dann nahm ich von Jack Traumwandeln leicht gemacht entgegen.

»Lest ihr dieses Buch durch?«, fragte Jack. »Dann kann ich mir das andere angucken.«

Ich platzierte das Buch so auf meinem Bein, dass Lina auch etwas sehen konnte, dann schlug ich das Inhaltsverzeichnis auf und überflog die Überschriften. Soweit ich das auf den ersten Blick beurteilen konnte, gab es unter anderem viele Tipps zum Einschlafen, Tipps zum Traumwechseln, aber auch Tipps, falls man die gewünschte Person nicht erreichte.

Ich blätterte zu den Tipps zum Traumwechseln und begann, zu lesen.

Um eine andere Person in ihrem Traum zu besuchen, gibt es, da das Wandeln so komplex ist, viele verschiedene Möglichkeiten, wobei für jeden Traumwandler manche besser funktionieren als andere.

Während es den einen am einfachsten fällt, einen fremden Traum zu besuchen, indem sie den Namen des Träumenden aussprechen, reicht es anderen aus, den Namen zu denken. Dies kann allerdings zu Verwirrungen führen, wenn der Wandler mehrere Personen mit demselben Namen kennt und kein klares Bild der Person vor Augen hat. Deswegen stellen sich einige lieber das Gesicht, den ganzen Körper oder aber auch die Stimme des gewünschten Gastgebers vor. Wieder andere denken lieber an eine bestimmte Erinnerung zurück, die sie besonders mit der Person verbindet.

Nur erfahrenen Traumwandlern ist es möglich, einen Träumer zu besuchen, dem sie noch nie im Leben begegnet sind.

Ich überflog den nächsten Teil, der noch einmal einzeln auf alle verschiedenen Möglichkeiten des Wandelns einging, dann klappte ich das Buch zu.

»Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ich einfach mal jede Methode ausprobiere«, sagte ich.

»Jetzt?«, fragte Lina. »Willst du nicht erst einmal die anderen Kapitel lesen?«

»Na ja, die Tipps zum Einschlafen brauche ich nicht. Ich meine, meistens kann ich schnell einschlafen. Und das mit den Personen, die man nicht erreichen kann, ist auch unnötig. Tuesday habe ich schon einmal besucht und meine Mutter... Ach, ich weiß nicht, sie hat bestimmt bloß nicht geschlafen, als ich es probiert habe.«

Lina seufzte und schlug das Buch wieder auf. »Ich gucke trotzdem mal nach«, meinte sie und las einen Moment, während ich mich auf das Bett zurückfallen ließ.

Ich wünschte, ich könnte jetzt schon schlafen, aber es war gerade einmal Nachmittag.

»Hier steht«, sprach Lina nach einer Weile, »dass das Nichterreichen mehrere Gründe haben kann. Der einfachste ist, dass die andere Person einen anderen Schlafrhythmus hat oder in einer anderen Zeitzone lebt.«

Ich seufzte. »Als ob ich mir das noch nicht denken konnte. Aber hey, vielleicht wohnt meine Mama wirklich in einer anderen Zeitzone. Schließlich meinte Evelyn, dass die beiden nach Amerika gereist sind wegen dieser Eizellspende. Vielleicht wohnt Mama ja immer noch dort.«

»Kann sein«, erwiderte Lina. »Aber es gibt noch mehr. Ist der gewünschte Träumer auf einer anderen Welt, beispielsweise in der Hölle, so könnte es sein, dass ein unerfahrener Traumwandler ihn aufgrund der Ferne nicht erreichen kann.«

»Wenn also Mama in der Hölle ist und ich versuche, sie von der Hölle aus zu erreichen, dann sollte es funktionieren?«, fragte ich.

»Ich denke schon«, antwortete Lina. Es kann aber auch sein, dass sich der Träumer bewusst gegen Traumwandler abgeschirmt. Dazu gibt es zwei Varianten: Entweder baut er im Geist Brücken gegen unwillkommene Traumeinbrecher oder aber er umzingelt sein Haus oder Grundstück mit Silber oder Weihwasser. Zweiteres verhindert nämlich das Eintreten von Dämonen durch ihre Begabungen. Heißt, ein Dämon kann das Grundstück auf natürlichem Weg betreten, kann in diesem Gebäude oder Grundstück allerdings nicht seine Begabung benutzen.«

»Na, das wird's nicht sein«, beschloss ich. »Warum sollte Mama sich gegen mich abschirmen?«

»Doch nicht nur gegen dich, sondern gegen alle Dämo–«

Das Piepen meines Handys unterbrach unsere Unterhaltung. Ich fischte es aus meiner Hosentasche hervor und schaute auf das Display. Eine neue Nachricht von Evelyn.

Norbert kocht gerade für uns alle. Komm bitte nach Hause, schrieb sie.

»Sorry«, meinte ich zu Lina und Jack. »Evelyn schreibt gerade, dass ich nach Hause gehen soll. Ich kläre das kurz.« Dann tippte ich zurück: Ich komme später, okay?

Ich legte das Handy neben mich aufs Bett, doch kaum hatte ich es abgesetzt, piepte es erneut.

Nein, jetzt! Das Essen ist in einer Viertelstunde fertig, lautete die unbefriedigende Antwort.

Ich verdrehte die Augen. Seit wann kümmerte meine Mutter sich überhaupt darum, ob ich beim Essen dabei war oder nicht?

»Ich muss gehen«, meinte ich missmutig und umarmte Lina zum Abschied. Dann stand ich, mit dem Handy in der Hand, auf.

»Kein Problem. Du kannst gerne morgen wieder vorbeikommen«, erwiderte Jack und legte sein Buch beiseite. Dann sprang er vom Bett auf und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ein warmes Gefühl ging durch mich hindurch, doch an der Stelle, wo er mich berührte, war es am stärksten.

»Bis morgen«, sagte ich und kicherte.

»Bis morgen«, wiederholte Jack. »Ich lese dieses Buch durch, während du weg bist. Und du, träum später schön. Merke dir alles. Du musst uns morgen unbedingt erzählen, wie es mit deinem Traumbesuch gelaufen bist. Und sollte es bei deiner Schwester oder Mama nicht klappen, dann bin noch immer ich für dich da.«

Mein Lächeln wurde während seinen Worten immer breiter. Am liebsten hätte ich ihm für immer zugehört, doch ich musste los.

Ich winkte Lina, die uns mit großen Augen anschaute, ein letztes Mal zu, dann verschwand ich zur Tür hinaus. Jacks Hitze in meiner Wange blieb mir den ganzen Heimweg über erhalten.

Monday - Dämonen der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt