76 ~ Die Gestalt

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»Danke«, sagte ich. »Aber bitte, glaub mir. Ich weiß erst seit kurzem von meiner Begabung und habe keine Ahnung, wie ich überhaupt mein Aussehen verändern kann. Wir können uns in der Realität treffen, meinetwegen auch an einem öffentlichen Platz treffen, wenn dich das beruhigt.«

»Tut mir leid, wenn dich meine Antwort enttäuscht, aber nein. Eines würde mich jedoch interessieren: Wie heißt du, wenn du vorgibst, meine Zwillingsschwester bist?«

»Monday.«

»Das ist lustig. Monday und Tuesday, die Zwillinge. Wie albern klingt das denn?«

»Ich bin halt einen Tag vor dir geboren. So etwas gibt's. Können wir uns treffen? Ich werde dir schon nichts antun.«
»Nein.« Sie wandte ihren Kopf mir ab und starrte auf die Lava hinaus.

»Bitte, Tuesday«, versuchte ich es noch einmal. »Warum sollte ich lügen?«

»Wegen ... Ach, ich wäre ja dumm, wenn ich dir das sagen würde. Tut mir leid, Wandler, Monday, oder wie auch immer du heißt. Aber wenn wir uns treffen, dann zu meinen Bedingungen.«

Auf ertönte eine laut schreiende Kinderstimme.

»Tuesday!« Es war dieselbe Stimme wie letztes Mal, wenn ich mich nicht täuschte.

»Oh, wie gut«, sagte Tuesday mit einem Lächeln auf den Lippen. »Ich wache endlich auf.«

Sie winkte mir noch zu, dann verschwand der Boden unter meinem Hintern, der See aus Lava versickerte im Nichts.

Bevor sich der Traum komplett auflösen konnte, schloss ich meine Augen und dachte an Jack. An unseren Kuss in Bibis Laden. Wie er meine Lippen nur sanft berührt hatte, wie ich mich näher an ihn gedrückt hatte. Eine wohlige Wäre breitete sich bei der Erinnerung in meiner Körpermitte aus.

Und zu meiner Überraschung tat sich etwas. Ich spürte einen Wind und dann landete ich kopfüber mitten in einer feuchten Masse.

Ich öffnete die Augen.

Einer roten feuchten Masse. Lava.

War Tuesday etwa wieder eingeschlafen?

Ich drehte mich einmal ganz herum, dann strampelte ich an die Oberfläche und hielt nach dem Beckenrand Ausschau, doch es gab keinen. Stattdessen befand sich inmitten der Lava eine kleine Insel, auf der zwei Menschen übereinander herfielen.

Nein, das ist definitiv Jacks Traum, stellte ich fest, als ich beim Näherschwimmen die Personen erkannte.

Bei der Person, die unten lag, handelte es sich um niemand geringeren als Jack. Die obere, die auf ihm lag und ihn leidenschaftlich küsste, war ein Abbild meiner selbst.

Ich schwomm weiter, bis ich unter meinen Füßen Boden ausmachen konnte, dann watete ich durch die Lava und betrat die Insel.

»Hey, Jack!«, rief ich.

In dem selben Moment, in dem Jack sich zu mir umdrehte, löste mein Abbild sich auf.

»Oh, du hast es schon wieder getan«, sagte Jack und stand auf. »Das Teleportieren.«

»Nein, ich habe mich nicht teleportiert«, erklärte ich. »Das hier ist dein Traum. Ich bin ein Traum–«

»Ein Traumwandler!«, beendete Jack meinen Satz. »Ich erinnere mich.« Seine Wangen röteten sich. »Es ist nicht so, wie es aussieht«, meinte er.

»Wie sieht es denn aus?«, fragte ich stirnrunzelnd.

»So, als würde ich jede Nacht von dir träumen.« Er wurde, wenn möglich, noch rötlicher im Gesicht. »Hast du deine Schwester und Mama nicht erreichen können?«

»Tuesday habe ich besucht, aber sie hat mir nicht geglaubt, dass ich ihre Zwillingsschwester bin, weil sie dachte, ich wäre ein Traumwandler, der seine Gestalt verändern kann. Und dann ist sie aufgewacht. Was soll ich denn jetzt machen?«

»Abwarten«, sagte Jack. »Und dann besuchst du sie nächste Nacht wieder. Überzeug sie.«

»Okay, aber das ist einfacher gesagt, als getan. Ich habe keine Ahnung, wie ich sie überzeugen kann. Ich weiß doch gar nichts über sie.«

Gerade, als ich meinen Satz beendet hatte, kam mir meine seltsame Unterhaltung mit Jareds Schwester wieder in den Sinn. Ich schlug mir mit der Handfläche auf die Stirn.

»Das stimmt gar nicht!«, rief ich aus. »Ich weiß, dass Jareds Schwester Tuesday kennt. Sie hat mich auf seinem Geburtstag für sie gehalten. Und das heißt, dass wir sie über meine Schwester ausfragen können. Vielleicht weiß sie ja sogar, wo sie wohnt. Dann muss ich gar nicht darauf warten, bis Tuesday endlich zu mir kommt, sondern kann sie selbst aufsuchen!«

»Warum hast du das nicht früher erwähnt?«, fragte Jack. »Das wird uns so viel weiter bringen, deine Schwester zu finden. Selbst, wenn Julia ihren Wohnort nicht kennt –«

»Wer ist Julia?«, unterbrach ich ihn.

»Jareds Schwester.«

»Oh.« Das hätte ich mir auch denken können.

»Jedenfalls«, fuhr Jack fort. »Falls sie Tuesdays Wohnort nicht kennt, dann hat sie doch sicherlich immer noch Kontakt zu ihr und könnte ihr sagen, dass du wirklich ihre Zwillingsschwester bist! Ihr seht doch ähnlich aus, oder?«

»Ja«, erwiderte ich. »Wir sind identisch. Abgesehen von den rosafarbenen Haaren.«

»Sie hat rosafarbene Haare? Wow, ich bin echt gespannt, sie zu sehen.«

»Falls wir sie denn jemals finden.«

»Natürlich werden wir sie finden.« Jack trat einen Schritt nach vorne und schloss mich in die Arme. »Und wenn wir unser ganzes Leben nach ihr suchen müssen.«

Ich schaute zu ihm auf. »Wir werden nicht unser ganzes Leben nach ihr suchen«, sagte ich. »Das muss schneller gehen.«


Als ich aufwachte, stieß ich einen erschrockenen Schrei aus, als ich die Umrisse einer Gestalt an meiner Bettkante entdeckte.

Monday - Dämonen der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt