Superintendant Waterford lehnte sich in seinem Stuhl nach vorn und stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel, was wohl andeutete, dass er eine Menge zu erzählen hätte. Nicht nur Luke, sondern auch Ginger machten sich für dessen Ausführungen bereit, indem sie sich so gut es ging aufsetzten. Der andere Sergeant vom Yard, der sich als Peter Harrington vorgestellt hatte, ging inzwischen ein paar Schritte zum Fenster und öffnete es. Offensichtlich glaubte er, frische Luft würde das was zu sagen war erträglicher machen. Luke war sich dessen überhaupt nicht sicher, aber ihm und Gabriel blieb keine Wahl.
„Sicherlich interessiert es Sie, was das für ein Haus war, in das er Sie gebracht hatte," begann der Mann seine Schilderung. „Das haben wir sehr schnell herausgefunden. Sie wissen doch", hierbei schaute er zu Luke, „dass ihr Freund, Blake, adoptiert war. Bei diesem Haus handelte es sich tatsächlich um sein eigentliches Elternhaus, also das, in dem er als Kind mit seinen richtigen Eltern gelebt hat. Haben Sie mal mit ihm darüber gesprochen? Ich meine darüber, warum er adoptiert wurde?"
Luke schaute etwas irritiert. Natürlich hatte er versucht, mit seinem Freund darüber zu reden, was in seiner Vergangenheit geschehen war, aber Blake hatte immer abgeblockt und Luke hatte nachgegeben. Warum war er nur so nachlässig gewesen?!
„Er wollte nicht darüber reden, also haben wir das Thema irgendwann ruhen lassen. Und was hat es jetzt damit zu tun?"
Der Superintendant fuhr fort: „Nun, wie es aussieht eine Menge. Seine Eltern haben offenbar einer christlich fundamentalistischen Sekte von Evangelikalen angehört, denen man den Jungen weggenommen hat, als er in der Schule auffällig wurde. Die haben dort gemerkt, dass er überdurchschnittlich aggressiv war, hat sich ständig geprügelt und so, deswegen sind die der Sache auf den Grund gegangen. Als sich herausgestellt hat, dass die Eltern den Jungen misshandelten, hat ihn das Jugendamt in eine Pflegefamilie gegeben, die ihn später adoptierte."
An dieser Stelle schaltete sich Gabriel ein. „Was waren denn das für Eltern? Was heißt denn misshandelt?"
Lukes Vorgesetzter war es sichtlich unangenehm, diese Dinge zur Sprache zu bringen, aber sie mussten wohl gesagt werden. Auch der blonde Sergeant sah ihn fragend an.
„Nun ja, die haben wohl geglaubt, dass Essensentzug und Prügelstrafen aus ihrem Sohn einen bibeltreuen Christen machen. So haben es uns die Adoptiveltern berichtet. Als er zu ihnen kam, war aber wohl bereits ein so schwerwiegender Schaden an seiner Psyche entstanden, dass all ihre Bemühungen umsonst waren. Er hielt sich trotz allem an einige der menschenverachtenden Regeln dieser Sekte und kam nicht damit klar, dass sie ihm erklärten, wie unsinnig und unnatürlich die waren. Er war schon in der Pubertät und weigerte sich, an eine Schule zu gehen, wo auch Mädchen waren, sagte, das sei Sünde. Er wollte unbedingt eine Bibel, um darin zu lesen und dann haben sie irgendwann Zeichnungen von ihm gefunden, Illustrationen im Grunde, wo er beispielsweise eine Steinigung oder die Kreuzigung dargestellt hatte. Das muss ihn sehr ... beschäftigt haben. Sie haben natürlich therapeutischen Rat gesucht, ihn sogar in eine Klinik einweisen lassen, aber dort hat er sich geweigert, die Medikamente gegen seine Angstzustände und Stimmungsschwankungen zu nehmen. Auch das wäre Sünde gewesen."
„Das ist alles furchtbar, was Sie da sagen", fand Luke. Er konnte sich nicht vorstellen, was da in Blake vorgegangen sein musste. Man hatte ihn aus einer Hölle, die er kannte in eine unbekannte Welt gebracht, wo er offenbar nicht zurechtkam. „Aber wenn er so krank war, wieso hat man ihn dann nicht in psychiatrischer Behandlung behalten? Oder konnte man ihm da nicht helfen? Ich meine: von all dem, habe ich nichts, rein gar nichts bemerkt. Alles schien in Ordnung, bis ich den neuen Job angefangen habe."
„Hat er mit Ihnen nie über seine Kindheit gesprochen?", wollte Waterford wissen.
Luke schüttelte den Kopf. „Nein. Ich dachte, wenn wir länger zusammen sind, dann kommt das noch. Ich meine, ich wusste, dass es ihm schwer fiel, sich bei seinen Adoptiveltern zu outen, aber nicht, welche Gründe es dafür gab."
„Nun ja", begann der Superintendant von Neuem, „der eigentliche Grund war wohl, dass er längst keinen Kontakt mehr zu ihnen hatte. Der Mann, den Sie als Blake Lewis kannten, den gab es nicht. Der Junge hieß Elijah Siwells und er ist vor elf Jahren aus der Klinik verschwunden. Bis jetzt haben wir nicht herausfinden können, wo er in der Zeit gewesen ist. Auch ist völlig unklar, wo seine richtigen Eltern geblieben sind. Im Augenblick suchen unsere Leute in dem alten Haus hinter jeder Wand und jedem Brett und durchpflügen das Grundstück."
„Oh, Fuck!" Luke schaute halb entschuldigend, halb entsetzt, weil ihm so eine Sprache vor seinem Vorgesetzten herausrutschte, aber er konnte es nicht verhindern.
Gabriel blinzelte kurz zu ihm herüber und hakte nach, ob er richtig verstanden hatte. „Also ist der Typ untergetaucht und hat seine Eltern umgebracht?"
Waterford nickte. „So sieht es aus. Oder auch in anderer Reihenfolge. Und sein Anwaltsexamen scheint gekauft. Wir konnten herausfinden, dass vor sechs Jahren ein Blake Lewis zwei Semester Jura in Oxford studiert hat, aber er hat keinen Abschluss gemacht."
„Na toll", kam es dieses Mal von Gabriel. Luke schlug hilflos die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Das ist doch alles nicht wahr!", brachte er ächzend hervor.
„Leider doch." Der Superintendant sah sich um und gab seinem Kollegen ein Zeichen, worauf der eine Aktentasche öffnete und ein Foto von Blake oder besser Elijah vorzeigte. Es war ganz eindeutig Blake. Keine Verwechslung möglich. Und im Gegensatz zu dem Blake, den Luke kannte, schien der Junge etwas von dem irren Blick zu zeigen, den Gabriel und Luke nur allzu deutlich in Erinnerung hatten. Der Junge schaute in die Kamera, aber er sah erbost aus und als würde es ihm schwer fallen, den Fotografen nicht anzufallen. Unheimlich. Krank. Mitleiderregend.
„Unser Profiler sagt", fuhr Waterford fort, „es ist nicht einmal ungewöhnlich, dass eine derartig gespaltene Persönlichkeit nicht weiter auffällt, Luke, mein Junge."
Das „mein Junge" ließ Luke aufhorchen. Da war wohl immer noch nicht alles aus dem Sack, wenn der Superintendant so anfing und sich um einen persönlichen, nein, sogar väterlichen Ton bemühte.
„Was hat der Mann noch gesagt, über Blake?"
„Nun ja, er sagte, dass es praktisch zwei Seiten von ihm gegeben hat. Die eine muss die gewesen sein, die Sie kannten. Der junge, erfolgreiche Anwalt mit dem sie zusammengelebt haben, als Paar. Die andere muss eine zutiefst verstörte Persönlichkeit gewesen sein, die, womöglich ausgelöst durch ein krankhaftes Verhältnis zur eigenen Sexualität, in Zusammenwirkung mit der Erziehung in der Sekte, eine Art Rachefeldzug gegen junge Homosexuelle geführt hat. Vor allem, wenn davon auszugehen war, dass die jungen Männer ebenfalls eine christliche Erziehung hatten. So würde sich die Wahl aufgrund der Namen erklären."
„Das heißt, Luke war sicher, weil er mit Blake zusammen war und nicht auf den anderen gestoßen ist?", folgerte Gabriel nun aus dem Gesagten.
„Das ist anzunehmen. Er entspricht mit dunklem Haar auch nicht dem Typ des anderen."
„Oh, F...erdammt!", kam es von dem Blonden, der ja nicht blond war. „Wenn ich mir das vorstelle, dass der losgezogen ist, wenn ich im Einsatz war oder wenn er so spät noch im Büro war, das ist so abgrundtief unbegreiflich ..." Er konnte nicht weiter reden. Sein Hals war wie zugeschnürt.
Waterford nickte verständig und bemerkte einen Blick von Gabriel, der so viel sagte wie: Sehen Sie doch, er kann nicht mehr. Also nickte er auch Gabriel zu.
„Also schön, Jungs. Machen wir hier eine Pause, damit sich alle etwas ausruhen und beruhigen können."
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Rainbow Warrior
Mystery / ThrillerLuke ist ein junger, schwuler Polizei Sergeant bei Scotland Yard und erhält den Spezialauftrag , sich als verdeckter Ermittler in der Londoner Clubszene einzuschleusen. Dort treibt ein brutaler Serientäter sein Unwesen, der seine Opfer betäubt und m...