Verzeihen

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Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bevor das Lachen, die Umarmungen, die Freudentränen und die unzähligen, durcheinandergeworfenen Fragen verebbten und Luke den Vorschlag wagte, dass sich alle doch an den vorbereiteten Tisch setzen sollten. Wie sich herausgestellte, war es Taras Initiative zu verdanken, dass die Geschwister zu viert ins Hotel gekommen waren. Wie vermutet, hatten sie das Haus in der Falls Road unter Vorwänden verlassen und noch dazu in zeitlichem Abstand, damit die Eltern keinen Verdacht schöpften. Gabriels ältere Brüder Raphael und Brendan sowie seine älteste Schwester Mary, die immer mit ihm tanzte, lebten nicht mehr dort. Sie waren bereits verheiratet und hatten eine eigene kleine Familie. Ganz bestimmt würden sie so bald wie möglich Kontakt zu dem verlorenen Bruder aufnehmen wollen, versicherte Tara, denn alle hatten ihn ganz furchtbar vermisst und leider sogar für tot gehalten. So hätten es Vater und Mutter immer dargestellt. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie dies erzählte und es war ihr und den anderen anzumerken, wie sehr sie darunter gelitten hatten. Michael fügte hinzu, es sei ihm nie in den Sinn gekommen, das Beharren der Eltern darauf, dass sein Bruder tot sei zu hinterfragen. Sie hatten dies immer in bedrohlich ernstem Ton behauptet, aber nie genauer erklärt. So glaubten die Geschwister schließlich, dass es so sein musste, denn es kam ja auch kein Lebenszeichen von Gabriel. Zudem hatte sich Angst unter ihnen verbreitet. Die Angst, ebenfalls verstoßen zu werden und dann ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie er.

Ryan und Michael waren, wie die übrigen, jüngeren Geschwister, zum Zeitpunkt des Rauswurfs sogar noch zu jung gewesen, um zu verstehen, was denn der Grund dafür war. Gabriel hatte die Schule geschwänzt, um mit einem Freund zusammen zu sein. Warum war das so eine Katastrophe gewesen? Dafür hatten sie damals keine Erklärung. Solche „Dinge" wurden weder vom Vater noch von der Mutter thematisiert und auch unter den Geschwistern aus Furcht kaum besprochen. Was Gabriels unaussprechliche „Sünde" war, hatten sie erst viel später begriffen, als in Colleens Klasse ein Junge als schwul geoutet worden war.

Die ganze Situation, bei Tee, Scones und Keksen über ihre Familie zu reden, war in mancher Hinsicht seltsam, doch unbedingt notwendig und heilsam. Vor allem für den verstoßenen Bruder. Gabriel war es anzusehen, wie erleichtert er über dieses Wiedersehen und die Liebe war, die ihm seine Geschwister entgegenbrachten. Lügen und Angst hatten sie zurückgehalten und eingeschüchtert. Sonst hätten sie ihn gesucht und vielleicht sogar gefunden. Und sie hatten ihn vermisst. Er begriff, wie viel Mut notwendig war, um ihn jetzt hier in dem Hotel zu treffen und zugleich schauderte ihm bei der Vorstellung, wie die letzten sechs Jahre für Tara, Colleen, Michael, Ryan und die anderen, mit Ausnahme der Jüngsten- Aidan, Bridget und Fiona- gewesen sein mussten. Sein plötzlicher Rauswurf war auch für sie traumatisierend gewesen. Ihre Eltern, die sie bedingungslos lieben sollten, waren dazu fähig, einen Sohn zu verstoßen wegen pubertären Ungehorsams und seiner Homosexualität. Also war ihnen nicht zu trauen. Wen würden sie als nächstes fallenlassen und welche völlig irrsinnigen oder veralteten Vorstellungen waren da noch in ihren Köpfen? Würden sie ein Kind verstoßen, dass sich in einen protestantischen Jungen oder ein protestantisches Mädchen verliebte? Wahrscheinlich. Was war mit einem Muslim? Was, wenn eine der Schwestern vor der Ehe mit einem Jungen zusammen sein wollte? Was war mit Problemen in der Schule? Konnten sie Vater und Mutter überhaupt irgendetwas anvertrauen? Wohl nicht. Nie mehr. Nicht nach der Sache mit Gabriel. Einmal, so erzählte Colleen, sei sie in Panik gewesen, weil sie fürchtete schwanger zu sein. Zum Glück aber war es ein Fehlalarm.

„Ihr habt keine Ahnung, was das hier für mich bedeutet", sagte der Engel irgendwann, denn er suchte nach Worten und konnte seine Gefühle noch immer nicht recht ordnen. „Ich habe geglaubt, ich hätte euch alle verloren. Und ich wäre wirklich fast gestorben. Zweimal sogar. Umso schöner, dass wir jetzt alle hier sind."

Die Geschwister sahen sich etwas fragend an, bis es Michael war, der die Frage stellte.

„Ist das wahr? Was ist denn passiert?"

Rainbow WarriorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt