Cumberford Mills Teil37

613 83 14
                                    

Jetzt, wo das Rohypnol weitestgehend aus seinem System wich, versuchte Luke, sich den nächsten sinnvollen Schritt vorzustellen. Der Belag der Landstraße war so schlecht, dass er nicht wagte, schneller als vierzig Meilen zu fahren, denn er hatte keine Ahnung, wie schlimm Gingers Kopfverletzung war und Erschütterungen waren sicher nicht gut und starke Erschütterungen, im Fall von Schlaglöchern, waren ganz sicher schlecht. Er müsste dringend in das nächste Krankenhaus, nur hatte Luke absolut keine Peilung, wo das sein sollte. Die Straße war von den für die Landschaft typischen Wallhecken gesäumt, so dass es kaum möglich war, sich genauer zu orientieren. Aber so dünn besiedelt war England nicht. Ganz bestimmt würde er bald an eine Kreuzung mit Hinweisschildern kommen. Noch immer war keine Ortschaft in Sicht, denn zumindest einen Kirchturm oder einen Sendemast müsste er doch erspähen, wenn das was wäre. Aber nein. Er beschloss anzuhalten und zu probieren, ob Blakes Handy inzwischen Empfang hätte, aber auch da hatte er kein Glück. Er drückte die Notruffunktion und nichts passierte. Wütend schrie er auf. „Verfluchter Mist!" Das entlockte dem schwer Verletzten auf dem Rücksitz einen Laut, welcher Art auch immer. Es klang wie ein Stöhnen, vielleicht auch ein Wehklagen. „Hey, Gabriel!", begann Luke jetzt mit ihm zu reden, während er langsam wieder anfuhr. „Bleib ganz ruhig. Wir sind im Wagen, bald finden wir Hilfe ... Du blutest am Kopf und dein Arm ist ausgekugelt ... Es wird alles gut, deine Flügel sind noch da ... Ich denke, dass wir bald einen Ort finden ... Sobald wir Netz haben, setzte ich einen Notruf ab ... Du musst ganz ruhig atmen ... Wir schaffen das ... Ich glaube, ich liebe dich ... Hab ich dir schon erzählt, wie ich dich das erste Mal habe tanzen sehen? ... " Er redete einfach weiter, egal was, Hauptsache, Gabriel blieb ruhig und lebte weiter, solange er zuhörte, wenn es das denn war, was er tat.

Als der Wagen endlich an eine T-Kreuzung mit Ortsschildern stoppte, versuchte Luke abermals einen Notruf abzusetzen und dieses Mal hatte er Glück. Immerhin zeigte die Verbindung die Stärke von einem Balken an. Er war noch nie zuvor so erleichtert, wie in dem Moment, als jemand in der Zentrale den Ruf entgegennahm. „Hier ist 999, welcher Art ist ihr Notfall?"

„Es geht um Notarzt und Polizei. Ich fahre mit dem Wagen zum nächsten Ort, das ist Cumberford Mills, bitte benachrichtigen Sie Scotland Yard, hier ist Detective Inspector Luke Sherman, drei Männer sind verletzt, zwei davon haben schwere Kopfverletzungen, einer hat viel Blut verloren. Ein ernsthaft verletzter, gefährlicher Straftäter befindet sich in einem verlassenen Haus, etwa fünfzehn Meilen südwestlich von hier..." Nach dem Notruf fühlte er sich erleichtert. Spätestens in zwanzig Minuten würde medizinische Hilfe für Gabriel in dem Kaff eintreffen. Luke musste jetzt nur noch sicher und nicht zu schnell bis zum örtlichen Pub fahren, welches die Notrufzentrale als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Er fuhr abermals an und erzählte Gabriel, der noch immer leise stöhnte, was er gerade getan und gesagt hatte. Nur für den Fall, dass er es nicht mitbekommen hatte. Nach endlosen Minuten, es mochten allerdings höchstens zehn gewesen sein, passierte der BMW das Ortsschild und Luke hielt Ausschau nach dem besagten Gebäude. Es gab in dem kleinen Dorf sowieso nur eine Straße und eine Handvoll Häuser, weswegen er riet, es müsste das größte Haus in der Ortsmitte sein. Er steuerte also direkt das „Bird and Hare" an und kaum, dass der Wagen hielt, kam jemand heraus und winkte ihm zu.

„Ich bin Gideon Murphy vom Pub. Die Zentrale hat mich informiert. Der Notarzt wird in etwa fünf Minuten hier sein."

Luke nickte verständig und öffnete die Wagentür. „Das ist gut. Sehr gut. Ich bin Luke Sherman. Scotland Yard."

Gideon war ein etwas dicklicher Mittvierziger, der in so einer Situation erstaunlich gelassen blieb. Er sah Luke jetzt kritisch an und sein Blick wurde noch kritischer, als er den Mann auf dem Rücksitz entdeckte. „Ach du liebes Bisschen", murmelte er halblaut, bevor er sich zum Pub wandte und mit lauter Stimme nach Mrs. Murphy rief. „Frances, komm her und bring Decken mit!"

„Danke, das ist nett", begann Luke mit trockener Kehle. "Er heißt Gabriel."

„Und was zu trinken, hörst du, Frances?!"

Gleich darauf erschien die Frau mit zwei Decken und einer Flasche Wasser. Gideon nahm ihr die Decken ab und legte vorsichtig eine über Gabriel, die andere gab er Luke, der sie sich dankbar um die Schultern legte. Gleich darauf reichte seine Frau Luke die Flasche. Er trank gierig und fühlte, wie seine Lebensgeister es ihr dankten. „Ich muss nach ihm sehen!" Luke sprang fast auf und wollte aus dem Wagen, um hinten nach dem Schwerverletzten zu schauen, doch der Pubbesitzer legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn so davon ab. „Ruhig, Junge, du blutest auch, bleib lieber sitzen."

Er blutete? Aber was? Luke gehorchte, auch weil er jetzt den bleichen Schrecken in Frances' Gesicht geschrieben sah. Sie mussten beide einen entsetzlichen Anblick bieten. Dem Mann kam nun offenbar der gleiche Gedanke, wie Luke zuvor, dass es gut sei, zu reden.

„Was ist mit ihm passiert?", fragte er und deutete mit dem Blick auf Gabriel. Luke riss sich zusammen, um zu antworten. „Wir wurden entführt. Und er hat mit dem Entführer gekämpft. Ich konnte es nicht sehen." Das war leider die Wahrheit und auch, dass Luke nicht helfen konnte. Diese Erkenntnis traf ihn jetzt wie ein Schlag und er hätte am liebsten losgeheult. Vor Hilflosigkeit, Angst, Wut, Verzweiflung. Es wäre sein verdammter Job gewesen zu verhindern, was passiert war. Stattdessen war er selbst zu einem Opfer geworden.

„Wie schrecklich", fand Frances und ihre gut gemeinte Äußerung brachte ihn wieder in die Realität zurück.

„Ja, aber es hätte noch schlimmer kommen können."

In dem Moment bemerkte der junge Sergeant, dass im Rückspiegel des Wagens die Lichter eines Rettungswagens auftauchten. Cumberford Mills lag so sehr im Nirgendwo, dass nicht einmal ein Martinshorn notwendig war, um den Verkehr, wenn es ihn denn gäbe, zur Seite weichen zu lassen. Der Wagen kam einfach schnell herangefahren, gefolgt von weiteren Fahrzeugen, dem Notarzt und der Polizei, und im Nu war der BMW umringt von Helfern. 

Rainbow WarriorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt