Irgendwo im Nirgendwo Teil36

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Da gab es nichts, was der junge Sergeant tun konnte, außer zu warten, auf Gabriels Atem zu horchen und immer wieder zu versuchen, sich effektiver zu bewegen. Ein schwaches, leises Schnaufen hinter ihm verriet, dass auch Blake noch am Leben war. Für einen kurzen, befremdlichen Augenblick war Luke beinahe dankbar dafür, dass sein Liebster diesen Mistkerl nicht umgebracht hatte, denn ganz sicher wäre das für ihn eine furchtbare Last auf dem Gewissen. Aber der Augenblick war schon bald vorbei und stattdessen überwog jetzt die Angst, der röchelnde Anwalt könnte schneller wieder zu Kräften kommen als die Wirkung der Droge verschwand und sich erneut an seinen Opfern vergreifen. Inzwischen konnte der junge Mann den Kopf etwas anheben und wenden und sah, in welchem Zustand sich der Tänzer befand. Er war übelst zugerichtet. Eine offene Platzwunde am Kopf blutete unentwegt und hatte sein ginger-rotes Haar mit dunkelrotem Blut verklebt. Blut war auch aus Mund und Nase gekommen, was mögliche, innere Verletzungen andeutete. Sein Gesicht war angeschwollen und sein Oberkörper nackt und blutverschmiert. Mehr konnte Luke nicht sehen, doch die Engelsflügel waren noch da, das war die Hauptsache.

War er vergewaltigt worden? Das ließ sich nicht erkennen, weder zum Guten, noch zum Schlechten. Was könnte Luke überhaupt tun, sobald er sich rühren konnte? Erste Hilfe leisten? Blake durchsuchen, ob der ein Handy dabei hatte, um den Notruf zu benachrichtigen? Herausfinden, wo sie überhaupt waren? Als Ginger leise zu stöhnen begann, so als würde er aufwachen, begann er, beruhigend auf ihn einzusprechen. „Alles wird ... gut", brachte er erstaunlich gut heraus und im nächsten Moment hob er seinen Arm und legte dem Tänzer eine Hand an die Wange. „Bleib ruhig. Alles wird gut."

Als Nächstes versuchte er mehr. Wenn er den Arm heben konnte, dann kam seine Beweglichkeit, die Fähigkeit, Signale an seine Muskeln zu senden zurück. Er winkelte den anderen, ausgestreckten Arm an und schob ihn unter seine Brust. So versuchte er, sich hoch zu stemmen. Beim zweiten Versuch klappte das tatsächlich. Er ließ sich auf die Seite drehen und so stellte er fest, dass er selbst vollkommen nackt war. „Scheiße." Das konnte im Grunde alles Mögliche bedeuten und er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Stattdessen hob er den Kopf und sah sich um. Blake lag an der Heizung, blutete stark aus einer Kopfwunde und rührte sich nicht. Die Tür daneben sah alt aus und zeigte Blutspuren, die dunkler und wohl älter waren als dass sie von Ginger, Blake oder ihm stammen konnten. Also war das hier der Ort, an dem ...

Am Boden lag ein Messer. Bestimmt hatte sein Psycho-Ex das geholt, um damit über sein rothaariges Opfer herzufallen. Luke angelte mit dem Fuß danach und schob es weiter weg von Blake. Man konnte nicht sicher sein, was passierte. Dann begannen die nächsten quälenden Minuten. In seinem Kopf zählte er immer wieder bis sechzig und nach fünfzehn Durchgängen, beschloss er, zu versuchen aufzustehen. Erst stützte er mit beiden Armen den Oberkörper auf. Das klappte und für einen Augenblick war ihm davon schwindelig. Gleich danach zog er die Beine an, was einen stechenden Schmerz in seinem Unterleib hervorrief. Luke ächzte und hielt inne. Seine Stimme hatte Gabriel geweckt, zumindest blinzelte der jetzt und machte Anstalten, den Kopf zu heben. „Bleib liegen, ganz ruhig", flüsterte der Blonde ihm zu.

Wenn der junge Ire eine Kopfverletzung hatte, dann sollte er sich nicht plötzlich bewegen. Dass das auf ihn selbst auch zutraf, kam ihm überhaupt gar nicht in den Sinn. Behutsam stemmte Luke sich jetzt hoch in einen wackligen Stand. Kurz drehte sich alles, dann machte er ein paar Schritte an Blake vorbei auf die Tür zu. Gut. Sie war nicht verschlossen. Von dort sah er den nächsten Raum, ein altes Wohnzimmer mit einer Tür und einem Fenster nach draußen. Dort stand Blakes Wagen inmitten von typisch englischer, einsamer Landschaft. Andere Häuser wären besser gewesen, aber auch unwahrscheinlicher. So würden sie den BMW brauchen, wenn es ihm denn gelang, Gabriel dorthin zu bringen.

Er schaute zurück in den Raum ihrer Gefangenschaft und entdeckte das blutverschmierte T-Shirt des Iren am Boden. Das nahm Luke und legte es ihm sanft unter den Kopf. Dann kam der widerliche Teil des Ganzen. Er näherte sich vorsichtig Blake, der sich noch immer nicht gerührt hatte. So wie der aussah, hatte Gabriel ihm den Schädel an den Heizrippen zertrümmert, wie auch immer er das gemacht hatte. Seine einzige Chance wäre der Notarzt. Luke durchsuchte ihm die Hosentaschen. Da war sein Handy, aber es zeigte keinen Empfang. Sie waren irgendwo im Nirgendwo. „Scheiße." Er kramte weiter und fand den Autoschlüssel. Gut, dann nichts wie weg ... Ein, zwei Handgriffe genügten und er hatte ihm die Hosen ausgezogen, um sie sich überzuziehen. Wie du mir, so ich dir, du Wichser. Der Blonde kam zurück zu dem immer noch am Boden liegenden Tänzer. Der schien auch wieder bewusstlos, denn er rührte sich nicht. Er sah jetzt erst nach ihm, denn ihm war klar, dass er ihn tragen oder schleppen müsste, um ihn ins Auto zu kriegen. Auf gar keinen Fall wollte er ihn dabei versehentlich noch mehr verletzen.

Die Hände des Rothaarigen waren vor seinem Bauch mit Klebeband gefesselt und Luke nahm das Messer, um die Strippen zu zerschneiden. Jetzt bemerkte Luke, dass die Haltung des einen, rechten Arms extrem unnatürlich war. Der Arm war komplett aus dem Schultergelenk ausgekugelt, was äußerst schmerzhaft sein musste. Die Fußfesseln waren bereits zerschnitten, woraus der Polizist folgerte, dass dies durch Blake geschehen war, kurz bevor es zu den Kampfgeräuschen kam. Gabriels Gürtel war ebenfalls auf der Rückenseite sauber mit einem scharfen Messer durchtrennt. „Wir zwei können noch unseren Spaß haben... geht gleich los...", hallten Blakes Worte in Lukes Kopf wider. Warum es nicht dazu kam, dass sein durchgeknallter Ex-Freund den Tänzer vergewaltigt hatte, wie der sich wehren konnte, blieb dem Blonden ein Rätsel. Er macht das nicht zum ersten Mal durch, kam ihm nun in den Sinn. Vielleicht hatte seine Vergangenheit in Belfast dem jungen Mann geholfen, so etwas noch einmal zu überstehen? Vielleicht ...

„Gabriel, hörst du mich?" Er fasste den Rothaarigen sanft an der unverletzten Schulter und wickelte ihm das T-Shirt, auf dem er gelegen hatte, behutsam um den Kopf. Der Engel reagierte, in dem er stöhnte und die blutverklebten Augen halbwegs aufschlug.

„Wenn du mich verstehst, dann blinzele, okay?"

Er blinzelte.

„Sehr gut. Ich muss dich tragen, wir haun hier ab. Achtung, gleich geht's los."

Mit diesen Worten legte er ihm einen Arm um den Rücken, den anderen unter die Kniekehlen, um ihn wie ein Kind zu tragen.

„Auf drei", warnte er, denn es würde weh tun, „eins, zwei, drei!" Luke stützte sich mit Gingers Gewicht nach oben, der ächzte laut auf, blieb aber ruhig, um es dem Sergeanten zu ermöglichen, ihn zu tragen. Der stöhnte auch, denn was immer ihm widerfahren war, hatte ebenfalls peinigende Schmerzen hinterlassen. Es kam ihm vor, als würde er im Unterleib von einem glühenden Pfeil getroffen, aber er biss die Zähne zusammen. Es war nicht weit, durch die Tür, zum Wagen. Immer einen Schritt vor den anderen und langsam, nur nicht stürzen...

„Lu...ke", röchelte Gabriel hervor.

„Bleib ruhig, gleich ist es vorbei."

„Wo... is..."

„Blake hast du es gegeben. Der rührt sich nicht."

Luke strauchelte, fing sich aber wieder, der Mann in seinen Armen ächzte. Dann hatten sie die Tür erreicht. Der Blonde ließ Gabriels Beine von seinem Arm hinunter, dann öffnete er die Tür, nahm ihn wieder auf und legte ihn erst draußen neben dem Wagen wieder ab. Er öffnete die Hintertür, dann hob er den blutenden Tänzer hinein. Wenn das hier vorbei war, dachte er in einem Anflug von makaberem Humor, wird Blakes Kekskrümel-freie Anwalts-Angeber-Karre nicht wiederzuerkennen sein. Als er den Rothaarigen sicher auf dem Rücksitz wusste, schloss er die Tür und sah sich um. Ringsum war außer Hecken und Sträuchern nichts zu sehen. Keine Windräder, keine landwirtschaftlichen Gebäude, nichts. Da war nur der alte, asphaltierte Weg, der zu dem einsamen Haus mit Schuppen führte. Wenigstens könnte er sich da nicht verfahren. Luke stieg vorn ein, holte tief Luft und fuhr endlich los.

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