Leicester (Kapitel der Abschweifung)

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Ohne die beiden Turteltauben groß zu fragen, fuhr Oscar für einen Zwischenstopp in Leicester vom Motorway ab. Er hatte gehofft, dass sie genug Zeit dafür hätten und es sah ganz danach aus. Keiner der beiden jungen Männer wusste, was sie dort erwarten würde, aber der Ex-Bouncer versprach, dass es ihnen gefallen würde. Das müsste so sein, wenn die Typen im Fernsehen nicht völlige Idioten waren oder maßlos übertrieben hätten.

„Ich wollte da schon immer mal hin, seit ich eine spannende Doku im TV gesehen habe. Und weil unser Engel hier noch keinen Ausflug gemacht hat, wird's höchste Zeit!", fand er.

„Wieso hast du das nicht längst mit Sean erledigt?", wollte Gabriel wissen. Er wusste, dass Oscar ihm nicht vorher schon verraten würde, um was es ging, aber so bekäme er vielleicht einen Anhaltspunkt.

„Na, da gibt's nicht gerade Glitzer und Flitter, wo ich mit euch hin will", lautete die Antwort.

Luke und Gabriel schauten sich beide etwas ratlos an. Was könnte es sein, das einen Typen, der meist in schwarzen Lederhosen gearbeitet hatte und der Motörhead für die einzig wahre Metalband hielt, in einer Stadt auf halber Strecke von London nach Liverpool interessierte?

Die Stadt selbst wirkte für den jungen Polizisten wie jede andere mittelgroße Stadt Englands. Es gab Schilder, die den Verkehr ins Zentrum führten und weitere, welche auf die Universität und die Kathedrale von Leicester hinwiesen. Oscar lächelte vielsagend und schien genau zu wissen, was er vorhatte, denn er folgte den Hinweisen zu einem Parkplatz. Als sie diesen erreicht hatten, stellte der Mann den Wagen ab und hieß die Jungs ihre Lunchpakete nehmen und aussteigen.

„Himmel, Oscar, jetzt sag schon, was wir hier sollen!" Luke drehte sich gespannt in die Runde und sah nichts weiter als normale Häuser, abgestellte Autos und ein paar kaputte Mauerreste. Gabriel konnte auch beim besten Willen nicht sagen, was es nun zu bestaunen gäbe. Vielleicht mussten sie noch etwas Geduld haben.

„Habt ihr zwei noch nie etwas vom Wunder von Leicester gehört?", fragte der Ex-Bouncer dann. „Ich dachte mir, es macht uns allen Mut, wenn wir hier anhalten!"

„Das Wunder von ...", begann der Tänzer die Worte zu wiederholen, die ihm nichts sagten.

„Du redest von diesem Fußball-Wunder, als der Verein von denen hier englischer Meister geworden ist?" Luke konnte sich halbwegs erinnern, das in dem Zusammenhang gehört zu haben.

„Ich wusste, dass du Fußball schaust, aber nicht, dass du Fan von Leicester bist." Gabriel war noch immer irritiert.

„Ihr Jungs habt ja keine Ahnung. Wir sind nicht wegen Fußball hier, sondern wegen des Grunds für das sogenannte Wunder und das beginnt hier auf diesem Parkplatz."

„Jetzt rück raus damit! Oder brauchst du eine Motivationsrede?" Luke platzte gleich vor Neugier.

„Okay, okay", gab sich Oscar geschlagen und freute sich, weil es ihm gelungen war, die beiden so ahnungslos hierher zu führen. Sogleich zeigte er auf den alten Mauerrest und ein R am Boden. „Genau da, an der mittelalterlichen Klostermauer haben sie die Überreste von Richard III gefunden. Ihr wisst schon, der bucklige Fiesling aus dem Shakespeare Stück."

Das sagte den beiden Jungs tatsächlich was. Luke kannte es aus dem Theater und Gabriel hatte es in der Schule gelesen.

„Du meinst, der Typ war echt?", fragte er.

Oscar grinste und begann, den beiden zu erzählen, dass man das Skelett des Königs nach mehr als fünfhundert Jahren gefunden und identifiziert hatte. So schlug er mit dem Paar einen Weg zur Kathedrale ein, wo sie sich das Grab anschauen sollten. Luke konnte sich bei all dem keinen Reim darauf machen, was es mit Fußball zu tun hatte und fragte nach. Erneut tat Oscar höchst geheimnisvoll und meinte, das würden sie später noch genauer herausfinden. Nur ein kleines Stück Straße und eine Ecke weiter kamen sie auf den Kirchplatz. Die recht beeindruckende, langgezogene Kathedrale lag rechts von ihnen und ein paar Blumenrabatten und Wege, an denen Fahnenmasten mit dem königlichen Wappen der Plantagenet hingen, führten dorthin. Gabriel beschleunigte plötzlich aufgeregt und lief ein paar Schritte vor zu einem großen Baum, unter dem ein Denkmal stand.

„Jetzt trödelt nicht so, hier ist er schon!", rief er den anderen zu.

Tatsächlich war da ein Standbild, das Richard III zeigte und zwar höchst dynamisch, bereit zum Angriff, mit Schwert in der einen und Krone in der anderen Hand.

„Wow", bemerkte der Blonde, als er und Oscar hinzukamen. „Er sieht nicht viel älter aus als wir. Und wo ist der Buckel?"

Der Tänzer sah überrascht aus. „Stimmt! Er hat gar keinen."

„Haben die seine Statue hier idealisiert?", wandte sich Luke an Oscar.

Gerade als der reagieren wollte, mischte sich ein älterer Herr dazu, der gerade auf den Platz kam und das Gespräch der jungen Männer zufällig mitbekommen hatte.

„Sowas würde hier niemandem einfallen!", bemerkte er mit gespielter Entrüstung.

Gabriel wollte das nun genauer wissen. „Ach, nein?", hakte er nach und musterte den Mann kritisch. Er sah aus, wie jemand, der wusste, wovon er sprach. In dunkelblauer Cordhose und einem Tweedjackett mit Schonern aus Leder an den Ellenbogen, sah der Typ aus wie ein Lehrer oder ein Doktor von der Uni.

„Nein", begann der seine Erklärung mit einem wissenden Lächeln. „Das ist nach alten Berichten und Beschreibungen angefertigt worden. Und da war nie die Rede davon, dass der König so verunstaltet und körperlich missgestaltet war, wie das bei Shakespeare steht."

Oscar nickte wissend. „Das haben die im Fernsehen auch gesagt. Ist schon irre."

„Das ist einfach dumm, solche Dinge zu glauben, wenn Shakespeare Geld von den Tudors bekommen wollte, die Richard vom Thron gestoßen haben. Was meinen Sie mit irre?"

Wie er das erklären sollte, fragte sich der Ex-Bouncer auch. „Ach, wissen Sie. Ich finde es einfach irre, wie lange es manchmal braucht, bis sich Irrtümer der Geschichte als falsch erweisen. Oder wie lange Menschen an solchen Irrtümern festhalten können, auch wenn sie widerlegt sind."

„Mir scheint, sie haben da Erfahrung mit sowas. Sind sie auch Historiker?"

„Ich? Nein. Mir und meinem Mann gehört ein Gay Club in London."

„Oh, interessante Parallele." Der Mann in Tweed zog amüsiert eine Augenbraue hoch und schaute dann zu Luke und Gabriel, die inzwischen ein Selfie mit Richard für Sean gemacht hatten. „Ich könnte Sie und Ihre beiden jungen Freunde zum Grab mitnehmen. Ich habe da gleich die Aufsicht und informiere interessierte Gäste."

„Auf das Angebot gehen wir gern ein. Kommt ihr, Jungs?"

Die beiden Turteltauben nickten begeistert. Sie hatten trotz des Fotos natürlich mitbekommen, was Oscar und der Historiker gesagt hatten. Also folgten sie dem Mann über einen kleinen gepflasterten Weg zur Kathedrale. Er führte sie durch einen Seiteneingang rechter Hand, der sie direkt zum Altarraum brachte, wo sich das Grab des Königs, ein imposanter, sandfarbener Steinquader mit einem tief eingekerbten Kreuz befand. Es wirkte sehr würdevoll und die Vorstellung, dass hier ein berüchtigter mittelalterlicher Herrscher endlich seine Ruhestätte gefunden hatte, ließ keinen der Männer unberührt. Der Historiker erklärte nun für die drei und andere Touristen die Symbolik des Steins und beantwortete gern ein paar Fragen dazu und zu der Auffindung des Skeletts. Schließlich hatte Luke noch eine wichtige Frage, die ihm auf der Zunge brannte, seit Oscar es auf dem Parkplatz erwähnt hatte: Was hatte es denn nun mit dem sogenannten Wunder von Leicester auf sich? Der Mann im Tweed lächelte vielsagend und deutete dann auf ein historisches Fenster im Turm. Luke, Gabriel, Oscar und die anderen folgten seinem Arm und Zeigefinger.

„Nun", hub der Mann an, „da oben in der Ecke ist ein Hinweis auf das Wirken von König Richard zu Lebzeiten hier in Leicester. Er war eine echte Sportskanone und soll begeistert Fußball gespielt haben. Sehen sie den Ball, da in der Scheibe?" Tatsächlich war dieser klar zu sehen. „Das kann doch kein Zufall sein, dass unser unbedeutender Verein in der Saison nach der Beisetzung des Königs die Meisterschaft gewinnt!"

Gabriel strahlte nun über das ganze Gesicht. „Sie meinen es gibt Wunder?"

„Aber sicher doch, mein Junge."


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