Streuner Teil47

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Gabriel war fürs Erste fertig mit der Welt. Das war klar zu sehen. Er ließ sich auf der Kannte des Schlafsofas nieder und wenn man genauer hinsah, dann hatte er deutliche Augenringe. Das alles war noch zu viel für ihn und Luke tat es nun umso mehr leid, dass Kate so unbedacht gewesen war und die ganze Sache seinem Freund natürlich nahe ging. Wie sehr, das konnte der Blonde nur erahnen, denn auch sie beide hatten das Thema O'Reilly Familie bisher weitestgehend vermieden. Nur einmal, an dem Tag, als sie Andys Leiche gefunden hatten, hatte Gabriel sein Schweigen gebrochen und von Patrick und Belfast erzählt.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll", begann Luke. „Meine Mum hat ganz sicher nicht damit gerechnet, dass sie in ein solches Wespennest tritt."

Er half seinem Freund nun aus den Schuhen und der Jeans, sodass der sich jetzt direkt hinlegen konnte.

„Ist schon gut", antwortete der Tänzer matt, „wenn ich es nicht selbst so verdrängen würde, dann könnte es mich auch nicht so triggern. Mir hätte klar sein müssen, dass deine Eltern Fragen haben."

Luke schien das einleuchtend, trotzdem wollte er noch etwas sagen. „Meine Eltern haben mitgekriegt, dass Sean und Oscar zu dir gekommen sind und Kate hat sogar erst gedacht, sie wären deine Eltern, was sie ja praktisch sind. Ihr hätte klar sein müssen, dass da irgendeine unschöne Geschichte dahinter steckt, wenn deine leiblichen Eltern nicht zu dir halten."

„Ich möchte nicht mehr darüber reden, okay?" Gabriel hatte genug und über die Wahrheit zu reden, würde sie nur noch realer machen, als sie es sowieso schon war: Er war tot für seine Familie.

„Hier, vergiss deine Tabletten nicht." Luke reichte ihm seine Blutverdünner und Schmerzmittel, zum Schlafen. Dann füllte er ein Glas Wasser und gab es ihm zu trinken. Doch ein weiterer Gedanke kam ihm jetzt in den Sinn, einer, der den Engel aufmuntern sollte.

„Deine Eltern wissen wohl gar nicht was passiert ist. So lange, wie du schon weg bist, können die nicht mal sicher sein, ob du lebst. Du könntest doch ..."

„Verflucht, Luke! Lass es bitte gut sein." Das klang weniger wütend als traurig und erschöpft.

„Ich seh doch, wie sehr es dich quält. Vielleicht könnt ihr euch nach Jahren versöhnen, wenn sie wissen, dass es dir gut geht und du dich bei ihnen meldest."

Der junge Sergeant schaute jetzt, ob etwas von seinen Worten vielleicht ein wenig Hoffnung in Gabriel aufkeimen ließ, aber der saß nur stumm auf der Bettkannte und biss sich auf die Lippen. Da stimmte etwas ganz und gar nicht. Dann dämmerte es Luke. Er setzte sich zu ihm, ergriff seine Hände und schaute ihm in die tiefgrünen Augen.

„Das hast du schon versucht, richtig?", fragte er dann so leise, dass es nicht mehr als ein geflüsterter Hauch war.

Der Engel schluckte erst schwer, blinzelte und nickte dann. „Ja."

„Oh, wann?" Luke konnte nicht verhindern, dass ihn die gleiche Schwermut überfiel. Er nahm seinen Liebsten nun behutsam, so fest es ging in die Arme. Der legte ihm den Kopf an die Schulter und atmete schwer, Nach einem scheinbar endlosen Moment bekam er sich etwas in den Griff, sodass er reden konnte.

„Nachdem ich Andys Vater ... nachhause gebracht hatte. Ich ... er war so verzweifelt und ich dachte, wenn es ihm jetzt so sehr leid tut ..., dann ... vielleicht tut es meinen Eltern auch leid und sie sind ... froh, wenn ... sie erfahren, dass ich lebe und okay bin."

Der Blonde erinnerte sich natürlich an den Abend. Vor allem an den Zustand Gabriels, als er ihn mitten in der Nacht noch immer wach bei Kerzenschein fand. Warum hatte er da nicht nachgefragt? Er war davon ausgegangen, dass der Tänzer wegen des Toten und seines Vaters so bestürzt war, nicht, davon, dass es da noch mehr gab. Er musste nun gar nicht mehr wissen, aber dennoch fragte er. Er wollte sicher gehen, nicht wieder etwas zu versäumen.

„Du hast dich also an dem Abend in Belfast gemeldet. Wer war am Telefon? Dein Dad? Deine Mum?"

Gabriel holte mit einem deutlichen Seufzer Luft, dann sprach er wieder. „Sie, meine ... sie war's. Hat so getan, als würde sie mich nicht erkennen ... und ich kam mir so verflucht naiv vor, zu glauben, dass die vielleicht mitgekriegt haben, dass da ein irrer Mörder Jungs wie mich abschlachtet. Zu glauben, dass die vielleicht erleichtert sind, wenn es ... ihrem Sohn gut geht. Fuck! Nein. Es ist ihnen lieber, wenn ... ich nicht existiere."

„Das ist ... das Allerletzte", fand Luke und kraulte Gabriel beruhigend im Nacken. Da ihm keine tröstenden Worte einfielen, musste eine liebe Geste genügen. Schließlich kam ihm doch noch in den Sinn, was er sagen konnte.

„Weißt du was, Engel? Du brauchst die gar nicht. Du hast jetzt mich und du hast sowieso zwei tolle Väter mit Sean und Oscar und wenn du zu mir gehörst, dann gehörst du zu den Shermans. Und jeder von den Jungs im Club würde für dichPferde stehlen."

„Das stimmt, was du sagst", gab der Mann in seinen Armen zu, „jetzt brauche ich sie bestimmt nicht mehr, aber ich ... hätte sie gebraucht ..."

Luke blieb einfach ruhig und hielt ihn, denn er redete noch weiter.

„ ... als ich vor Patrick abgehauen bin, hätte ich sie gebraucht. Als ich nicht wusste wohin, hätte ich sie gebraucht. Aber vielleicht ist das auch meine Einbildung oder reines Wunschdenken. Wie hätten mir diese verbohrten, der Kirche und den Nachbarn in den Arsch kriechenden Hohlköpfe helfen sollen? Sie hätten mich ein zweites Mal davon gejagt. In ihren Augen hatte ich es sicher nicht anders verdient. Eine Zeit lang hab' ich das ja selbst geglaubt, bis Sean mich bei sich aufgenommen hat."

„Wie kam es dazu?", fragte Luke nach. Sean hatte Gabriel tanzen sehen an Covent Garden, so viel wusste er, aber das war auch schon alles.

„Oh, das ist nicht gerade eine Gute-Nacht- Geschichte."

„Ist mir egal. Erzähl sie, bitte."

Gabriel schaute ihm in die Augen, um heraus zu finden, wie ernst es ihm war. Dann nickte er schwach und begann erneut.

„Zu dem Zeitpunkt hab ich niemandem vertraut, absolut niemandem und ich hätte auch nicht gewusst, warum mir jemand trauen sollte. Ich hatte schon 'ne ganze Weile wie ein Streuner gelebt. Immer mehr oder weniger auf der Straße. Meistens hab ich irgendwelchen Typen schöne Augen gemacht, die haben mich dann mitgenommen und bei denen konnte ich übernachten oder auch 'ne Weile bleiben. Das war besser als in 'nem Obdachlosenasyl oder unter 'ner Brücke. Wenn die ganz okay waren, war's das auch für mich und ich blieb ein bisschen. Wenn die mies waren, hab ich sie beklaut und bin abgehauen. Manchmal haben die mich direkt wie 'n Stricher behandelt und mir nach dem Sex Geld gegeben und gesagt das wars."

Der junge Ire schaute immer wieder, ob Lukes Reaktion verriet, dass er genug gehört hatte oder es nicht mehr hören wollte, aber der Blonde ließ ihn einfach reden. Wenn es gesagt war, dann konnte es nicht mehr zwischen ihnen stehen. Und Luke hatte es im Elysium ja selbst erlebt, wie manche Typen Geld für Sex anboten oder ihn mitnehmen wollten. Er wusste, wovon Gabriel sprach.

„Wie war das dann mit Sean?", gab er das Stichwort.

„Das war kaum anders. Er kam vom Shoppen und sah von einer Bank aus zu, wie ich auf dem Platz vor den Markthallen getanzt habe, um mir ein bisschen Geld zu verdienen. Am Ende hat er mir einen zwanzig Pfund Schein zugesteckt und gesagt, wie toll das war und dass er mir helfen könnte, noch mehr zu verdienen. Ich hab natürlich gedacht, es läuft auf Sex raus. Weil er harmlos aussah, bin ich mit ihm mit, hab geholfen, seine Tüten zu tragen und wir sind zum Club gegangen. Da kam uns Oscar entgegen und ich dachte glatt, ich bekäme es mit beiden zu tun. Und dann gab's aber erstmal was zu essen und ich hab mitgekriegt, dass die 'n Paar sind. So war das. Erst hab ich den beiden trotzdem nicht so recht getraut. Das hat gedauert."

„Kommt mir vor, als wäre es doch eine Gute-Nacht- Geschichte", fand Luke. „Sie hat schließlich ein Happy End."

Gabriel musste darüber tatsächlich lächeln. „Stimmt. Hab ich so noch gar nicht gesehen."

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