Falls Road

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Morgens herrschte so eine Art Katerstimmung, aber nicht wegen des Weins, sondern weil den beiden jungen Männern nur allzu deutlich klar wurde, dass sie es nicht länger hinauszögern konnten, weswegen sie gekommen waren. „Versöhnung oder Verdammnis", fand Gabriel, war es, was ihn erwarten würde. Letzteres würde ihm sicher wehtun, aber wenigstens könnte er dann mit dem Kapitel Familie in Belfast endgültig abschließen. Luke erwiderte darauf nichts, stattdessen blieben sie aneinandergeschmiegt und in liebevoller Umarmung noch eine Weile liegen. Sie küssten sich und Luke hielt Gabriels Hand mit dem Verlobungsring. Schließlich klopfte Oscar an die Tür, was ein deutliches Zeichen zum Aufstehen und Frühstücken war.

Endlich im Frühstücksraum angekommen, empfing Oscar „seine Jungs" mit Glückwünschen, einem herzlichen Lächeln, einer kräftigen freudigen Umarmung und Champagner.

„Habt ihr schon eure Handys gecheckt?", wollte er wissen, als sie sich gemeinsam setzten.

Die zwei verneinten, aber Oscar schien damit gerechnet zu haben, denn er begann gleich zu berichten, was sich in seinen Nachrichten getan hatte. „Sean ist gestern am Abend fast in Ohnmacht gefallen, wie ihr euch denken könnt. Er musste sich erstmal setzen, dann einen Prosecco trinken und als er sich dann genug Luft zugefächelt hatte, hat er Pläne gemacht."

„Was für welche?", fragte Gabriel in einer Mischung aus Neugier und Alarm.

„Na, heute Morgen fährt er mit Torte und Champagner zu deinen Eltern, Luke. Und morgen Abend wird er einen Sektempfang mit den Jungs vom Elysium machen. Falls wir dann schon zurück sind, wird das richtig bunt."

Luke schaute erst Gabriel, dann den Ex-Bouncer etwas hilflos an. Der zuckte nur mit den Schultern. „Ihr kennt ihn ja. Ich habe versucht ihn zu bremsen, aber was solche Dinge angeht, da ist mein Schatz eine Dampflock. Er würde sowieso zu spät zum Stehen kommen."

Lachend gab der Tänzer jetzt seinem Schatz einen Kuss auf die Wange. Offenkundig konnten Sean und dessen Aktionen den jungen Sergeanten immer noch überraschen und das war einfach zu süß. Die zwei sahen dann nach ihren Nachrichten und Glückwünschen und Luke rief bei seiner Mum an, die noch immer ganz aus dem Häuschen war.

Danach wurde es ernst.

Beim Frühstück kam nun endgültig das Thema O'Reilly Familie auf und wo genau diese wohnte und wie sie es denn nun anstellen wollten. Gabriel selbst kam auf die Idee, dass er anrufen könnte, sobald sie vor dem Haus wären. So würden sie mitbekommen, wenn jemand zuhause war. An einem Samstagvormittag waren vermutlich fast alle Familienmitglieder dort anzutreffen. Die Vorstellung machte ihn sichtlich nervös, aber an einem anderen Tag zu kommen, wenn die Kinder in der Schule waren und der Vater bei der Arbeit, wäre nicht sinnvoll gewesen. Zu allem Überfluss ertappte er sich selbst bei dem Gedanken, dass ihm jetzt, wo er einen Menschen in Notwehr erschlagen hatte und mit einem erfahrenen Bouncer sowie einem ausgebildeten Polizisten im Schlepptau nichts passieren könnte. Wie irre war das? Andererseits, welchen Eindruck würden die Familienmitglieder bekommen, wenn die drei im Vorgarten auftauchten? Würden sie ihn erkennen? Nun, sein rotes Haar wäre ein Hingucker und die Familienähnlichkeit nicht zu übersehen, auch wenn er inzwischen erwachsen war. Luke wirkte mit dem blond gebleichten Schopf und dem nachwachsenden dunklen Haar ein wenig wie ein Punk und Oscar in seiner schwarz- düsteren Massigkeit konnte regelrecht Furcht einflößen, wenn ihn kleine Kinder sahen. Schnell verdrängte Gabriel diese Gedanken, denn sie waren für nichts gut. Er würde es hinter sich bringen, so oder so.

Eine halbe Stunde später fuhren sie im Landrover durch die Innenstadt in Richtung des gälischen Viertels, wo Gabriel aufgewachsen war. Zuerst noch vorbei an Hotels und Parks mit Touristen, dann schließlich entlang der Falls Road mit ihren auffälligen Bemalungen an den Häusern, katholischer Schule, Kirche und Hospital. Straßennamen waren hier eindeutig nicht in Englisch und die Geschäfte und Häuser zeigten in ihrer Aufmachung und ihrem Zustand, dass hier die einfachen Arbeiter wohnten. Es gab die für Belfast typischen Reihenhäuser aus rotem Backstein, die Wand an Wand lehnten, mit nur einem kleinen Vorgarten zur Straße hin, wo alte Autos und Mülltonnen standen. Oscar fuhr ruhig und ließ sich nichts anmerken. Luke saß hinten im Wagen und schaute zwischen den Sitzen hindurch. Gabriel auf dem Beifahrersitz wies den Weg und es war klar zu sehen, dass ihn der Anblick dieser altbekannten Straße und ihrer Gebäude mit Unbehagen erfüllte. Ja, er erkannte das alles wieder und ganz sicher kamen ihm dabei nicht nur gute Erinnerungen.

„Da bin ich zur Schule gegangen", erklärte er einmal kurz, „und das da ist die Kirche."

Luke fragte nicht nach, was es mit ihr auf sich hatte. Vielleicht musste Gabriel dort jeden Sonntag zum Gottesdienst und sich Predigten über Sünde anhören.

„Jetzt geht's da nach links und dann fahr langsam und park' irgendwo."

„Okay."

Der Engel hielt einen Moment den Atem an, als der Landy in die kleine Nebenstraße einfuhr und Luke legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Welches von denen ist es?", fragte Oscar mit einer Kopfbewegung zu den Häusern vor ihnen.

„Das achte auf der linken Seite."

Zwei, vier, sechs, acht zählte Luke mit und fixierte das Ziel schon von weitem. Es sah aus wie jedes andere Haus in der Straße. Vorn mit einem kleinen Garten, darin ein vertrockneter Busch, ein großes Fenster, wo das Wohnzimmer war, eine Tür mit etwas abgeblätterter Farbe. Oscar stellte den Wagen nicht direkt davor, wahrscheinlich mit Absicht und schaute erst zu Gabriel, dann auf das Haus.

„Was machen wir jetzt?", fragte er den jungen Iren.

Zuerst schien es, als habe Gabriel nicht recht verstanden, denn er zögerte und kontrollierte deutlich seinen Atem. „Genau das, was wir besprochen haben." Mit diesen Worten nickte er und stieg aus. Luke und Oscar taten es ihm gleich und so näherten sie sich der Gartenmauer, hinter der man einen Ball im Gras liegen sah. Der Weg zum Haus war mit eingegrabenen Flaschen begrenzt. In einem Kübel vor der Tür standen Plastikblumen, wie von einer Kirmes. Über der Türklingel hing ein Kreuz. Durch die Gardinen in dem großen Fenster sah man nichts, was darauf hindeutete, dass jemand zuhause war. Also nahm der Tänzer sein Handy und wählte die Nummer seiner Eltern. Sogleich ertönte im Haus das Läuten des Telefons. Und es nahm jemand ab. „Hallo?", hörte man eine Männerstimme am Apparat.

Gabriel drückte sofort den roten Hörer und zog erschrocken die Luft ein.

„Dein Vater?", folgerte Luke.

„Ja."


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