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„Sie mich nicht so an.", nuschelte meine langjährige Freundin und musterte mich aus müden Augen. Sie hatte vor einer halben Stunde das Schlafmittel bekommen durch welches sie endgültig einschlafen würde.

Bisher hatte sie mit allen gesprochen die ihr wichtig waren, Phil, Dave, Ben, ihren Eltern. Schlussendlich blieb nur noch ich welche sie sehen wollte.

Meine Augen brannten und ich wünschte mir nichts sehnlicher als in Tränen auszubrechen, doch ich tat es nicht.

„Wie sehe ich dich denn an?", stellte ich die Gegenfrage und griff nach ihrer zierlichen Hand welche eiskalt war.

„So als sei ich schon tot.", lächelte sie traurig und ein bitteres Lachen entfloh meiner Kehle.

„Es ist nun mal schwer.", gab ich zögerlich zu und sah in ihre hellblauen Augen welche noch immer voller Freude strahlten.

„Ich weiß.", entgegnete sie mit leiser Stimme und ließ ihren Blick durchs Zimmer wandern. Das Zimmer welches sie seit dreizehn Jahren bewohnte.

Wenn sie nicht krank gewesen wäre, so hätte sie ein prachtvolles Leben gehabt.

Ihre Eltern hatten Geld, hohes Ansehen und gute Herzen, sie hätte einen grandiosen Abschluss hingelegt und wäre anschließend auf eines der besten Colleges des Landes gegangen.

Natürlich würde für uns alle das Leben weiter gehen, wir würden weiter unseren Weg gehen, aber eine unserer Stützen würde uns fehlen. Mag sein das wir oft für sie da sein mussten, jedoch hatte Grace uns immer etwas viel wichtigeres gegeben; Aufmerksamkeit.

„Amanda?", erst jetzt bemerkte ich, wie geistesabwesend ich gewesen war und blickte rasch zu meiner Freundin.

„Ja?", fragte ich genauso leise und rutschte, zusammen mit dem Stuhl, noch ein kleines wenig näher an ihr Bett.

„Ich werde euch vermissen.", gestand sie mit wässrigen Augen und schluckte schwer. Ich presste meine Lippen fest aufeinander, nicht wissend was ich sagen sollte, wir alle würden sie vermissen.

„Unter dem Bett liegt eine Kiste. Es gab niemand anderen der diese Aufgabe hätte übernehmen können.", erklärte sie mit kehliger Stimme und hektisch nickte ich. Alles, wirklich alles würde ich für sie tun, auch wenn ich noch nicht wusste was es war.

„Ich bin und war immer zufrieden mit meinem Leben.", meinte sie nach einiger Zeit des Schweigens und lächelte mich aufrichtig an. Eine einzelne Träne rollte ihr über die Wange.

„Ich wollte keinen Nobelpreis gewinnen, geschweige denn an den Olympischen Spielen teilnehmen. Euch lächeln zu sehen war über all die Jahre das größte Geschenk was ich hätte bekommen können."

Ihre Worte versetzten mir ein Stich ins Herz während sie mich zugleich tief rührten, sie war zu gutherzig für diese Welt.

„Ich hatte, ohne das ihr es wusstet, schon oft den Gedanken die Schläuche einfach abzutrennen.", sie schnappte nach Luft, unterdrückte die kommenden Tränen.

„Ich hab es nie geschafft. So oft hatte ich meine Hand angelegt, kurz davor allem ein Ende zu setzen, doch ich konnte nicht, nicht so. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Ben brauchte mich, meine Eltern brauchten mich, du brauchtest mich.", noch immer hatte ich nichts gesagt, zu tief saß der Schock.

In dem Moment als sie all diese Dinge sagte wurde mir bewusst, wie sehr sie gelitten hatte. Nie konnte sie ihren Träumen nachgehen, war immer gebunden und abhängig von Schläuchen und Kabeln.

„Ihr habt mein kleines, beschissenes Leben lebenswert gemacht.", dieser Satz gab ihr den Rest, Tränen quollen unaufhaltsam aus ihren Augen empor und das Atmen fiel ihr noch schwerer als sonst schon.

Wie in Trace erhob ich mich, setzte mich auf die Kannte des weißen Krankenbettes und strich mit meinen Daumen sanfte Kreise auf ihrer Haut.

Schnell fing sich Grace wieder und ihre Tränen versiegelten, sie sah mich an mit ihrem unbezahlbaren Lächeln und sagte die schönten Wörter die ich mir nur hätte wünschen können: „Du bist wie eine Schwester für mich."

„Ich werde nie Heiraten, Kinder kriegen oder ein eigenes Haus besitzen, auch werde ich nie dabei sein wenn du all diese Sachen erlebst. Ich werde nicht meinen zukünftigen Neffen oder meine zukünftige Nichte in den Armen halten. Meine Eltern werde ich nicht dabei zusehen, wie sie ihre Silberhochzeit feiern, nichts davon werde ich mehr mitbekommen.", sie sah mich an, suchend nach einer Reaktion welche sie aber nicht bekam.

Ich wollte ihr zeigen, dass mich ihre Worte berührten, mir ihre liebe zeigten, doch nichts geschah. Mein Körper fühlte sich wie gelähmt an.

In den Jahren hatte ich immer nur gesehen was Grace hatte, hab aber nie darauf geachtet, was sie nie haben wird.

„Es ist Okay, Amanda, wirklich. Das Leben ist kein Wunschkonzert.", stumm und benommen nickte ich, sah zu wie sie in ihr Kissen zurück glitt und mir ein letztes Mal in die Augen sah ehe sie ihre für immer schloss.

Noch einige Minuten wartete ich, wartete vergebens auf ein Zeichen, dass sie noch unter uns war. Doch nichts tat sich, stattdessen nahm ich wie in einer Seifenblase war, wie der Monitor neben ihr anfing zu Piepen und eine gerade grüne Linie zog.

Meine Unterlippe zitterte als ich mich von der Kante erhob und über das Bett beugte um das Gerät abzuschalten, auch so würden die Krankenschwestern und Ärzte wissen, dass Grace nun tot war.

Die letzte Wärme welche noch von ihrer Hand ausging füllte mich zu diesem Zeitpunkt mit Bitterkeit, dieses Mädchen vor mir hätte etwas Besseres verdient, sie hatte ein Leben verdient, bekam aber den Tod.

Ich küsste sanft, so als sei sie eine zerbrechliche Porzellanpuppe, ihre Stirn und legte meine auf ihre.

„Du warst auch immer wie eine Schwester für mich.", hauchte ich in die ohrenbetäubende Stille des Zimmers und öffnete anschließend wieder meine Augen welche ich zuvor geschlossen hatte.

Es kam zu spät, viel früher hätten diese Worte meinen Mund verlassen sollen.

Behutsam legte ich das dünne Bettlaken über ihren leblosen Körper und ließ ihre Hand los.

Es war an der Zeit sie gehen zu lassen, so schwer es auch war.

Believe in yourselfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt