Kapitel 72

3.4K 211 781
                                    

Unruhig knabbere ich auf meiner Unterlippe herum, während mir eine Stimme in meinem Kopf zuflüstert, dass das eine mehr als schlechte Idee ist. Doch warum sollte ich auf das zynische und vor allem vernünftige Ding hören, wenn mich alle meine anderen Sinne dazu ermutigen, ihrer garstigen Mitbewohnerin einen Tritt in den Hintern zu verpassen? Tja, die Antwort darauf habe ich auch noch nicht gefunden, aber meine Entscheidung steht sowieso fest. Ich werde Daimons Wunsch nachkommen und ihn am Pavillon treffen. Zum einen, weil ich kopflos wie ich bin sowieso schon zugesagt habe und zum anderen, weil ich das brauche.

Irgendetwas an seiner Gegenwart sorgt dafür, dass ich mich weniger allein und dafür mehr verstanden fühle und bei dem ganzen Chaos, das seit gestern losgebrochen ist, kann ich das dringender gebrauchen als in meinem Zimmer Gedankenkarussell zu spielen. Da sind mir mögliche Konsequenzen und schlechte Entscheidungen für einen Abend einfach mal egal. Und sogar die Tatsache, dass ich seiner Bitte vor wenigen Wochen sicherlich nur mit einer militärischen Eskorte nachgekommen wäre, lässt mich in diesem Moment kalt.

Was uns zu dem Punkt der Gegenwart bringt, an dem ich den Pavillon schon von weitem sehen kann und meine Gedanken wieder einen Ausflug in die magische Lotterie des ewigen Kreiseziehens machen. Bedeutet also, dass mein Hirn sich aus der riesigen Fundgrube ein wahllos ausgewähltes Thema aussucht und sich dann darauf stürzt wie ein Rudel hungriger Löwen. In dieser Runde fällt die Wahl auf die geheimnisvolle Organisation und mein weiteres Vorgehen, was genauso wie alles, was mein Gehirn seit heute in meinem Inneren aufploppen lässt, eigentlich schon geregelt ist.

Jedenfalls so halbwegs, denn obwohl ich entschieden habe erneut mit ihnen Kontakt aufzunehmen, bin ich mir noch nicht ganz sicher, wie ich das genau anstellen will. Es ist ja nicht so als hätten sie mir eine professionell gestaltete Visitenkarte zugesteckt, auf der ich eine Adresse oder einen anderen Weg finde, um sie zu kontaktieren. Zwar meinte Smaragdglupscher, dass sie mich finden werden, wenn ich mich dazu entscheide sie aufzusuchen. Doch leider lässt das meinen glorreichen Plan, einfach irgendwie das Schlossgelände zu verlassen und darauf zu warten, dass plötzlich ein Paket mit Antworten auf meinen Schoss fällt, auch nicht vernünftiger wirken. Und dabei habe ich noch nicht mal erwähnt, dass es mir bisher schleierhaft ist, wie und wann ich mich vom Acker machen möchte, ohne dass es auffällt.

Es ist ja schließlich nicht so als könnte ich mich einfach auf Daimons Bike schwingen und losbrausen – jedenfalls, wenn das oberste Ziel meiner To-Do-Liste nicht heißen soll ,,Als blutiger Fleischbatzen auf dem Asphalt enden und den Straßenreinigern eine Menge Arbeit aufhalsen". Denn – Newsflash – ein Führerschein gehört definitiv nicht zu den Dingen, die für ein Mädchen, das eigentlich nicht mal aus dem Haus darf, nötig ist. Denn obwohl ich mich nie um diese Regel gekümmert habe, finde ich es ein wenig verdächtig, wenn meine ansonsten eher geringen Ausgaben plötzlich um mehrere Tausend in die Höhe schießen oder Anzeichen von Ratenzahlung aufweisen. Das Risiko wollte ich damals einfach nicht eingehen, weshalb ich bis heute ohne Führerschein oder anderweitige Fahrerfahrung da stehe.

>>Klinge ich arg zynisch, wenn ich sage, dass ich nicht sicher war, ob du kommst<<, reißt mich plötzlich Daimons Stimme aus meinen Gedanken und mir wird erst jetzt bewusst, dass meine Füße mich bis zum Pavillon getragen haben, ohne dass ich meiner Umgebung überhaupt Beachtung schenken musste. Innerlich unterdrücke ich ein Grinsen, da ich mir ziemlich sicher bin, mir erst gestern geschworen zu haben mich endlich im aufmerksamen Geradeauslaufen zu üben. Tja, als besonders wachsam kann man meine Aktion definitiv nicht bezeichnen, aber immerhin scheint sich meine Begeisterung gegen lebendige Dinge zu laufen, irgendwie gelegt zu haben.

>>Oh glaube mir, ich bin von meiner Anwesenheit hier auch mehr als überrascht, da kann ich dir unmöglich einen Strick aus ein paar negativen Gedankengängen drehen<<, erwidere ich leicht abwesend, während meine Augen an der ausgebreiteten Picknickdecke hängen bleiben, die mit ein paar Kissen und einer großen Decke bespickt ist. Es sieht wirklich gemütlich aus, weshalb ich nicht lange zögere und mich neben ihn plumpsen lasse, wobei mein Blick wie von selbst nach oben, zu dem sternenübersäten Himmel, wandert, den wir schon bei diesem seltsamen Gruppendate gemeinsam beobachtet haben.

The chosen princessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt