Kapitel 96

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Auf einmal scheint die Welt für einen Moment still zu stehen. Das Geräusch des Schusses hallt in meinen Ohren nach, während ich gleichzeitig die Augen aufreiße und versuche irgendetwas zu tun. Ich mache einen Schritt nach vorne, obwohl ich weiß, dass Daimon mindestens zehn Meter von mir entfernt steht und ich damit nur meine Zeit verschwende. Also mache ich das einzige, was mir übrig bleibt und klammere mich an meine Fähigkeiten wie an ein Rettungsseil.

Ich stelle mir eine Eiswand vor seinem Körper vor die die Kugel abfängt, greife nach all meinen Kraftreserven, doch die bittere Wahrheit ist, dass ich mich vollkommen verausgabt habe. Ich fühle mich so leer wie nie zuvor und obwohl mich eine Welle aus Panik verschluckt, scheinen alle hilfreichen Emotionen wie weggewischt. Normalerweise gibt es immer einen Bereich in mir der vor Wut oder Trauer fast überquillt und mir täglich das Leben schwer macht, doch in den einzigen Sekunden in denen das jemals nützlich sein wird, bleibt mir auch das verwehrt.

Vielleicht erreiche ich meine Reserven durch meinen Strudel aus Angst einfach nicht oder ich habe schon alles für mein Feuerinferno verbraucht, doch egal wie man es dreht und wendet ich habe keinerlei Munition. Verzweiflung steigt in mir auf und frisst sich durch jede meiner Zellen. Es ist gleichzeitig eine Lungen zerquetschende Qual als auch mein letzter Lichtblick, denn plötzlich flammt doch eine klitzekleine Energiequelle in mir auf. Ich schreie vor Schmerz und Kälte auf, als ich das letzte bisschen aus mir heraushole und versuche diese Wand in Sekundenschnelle aus dem Nichts zu erschaffen.

Und dann ist es so als wäre die Blase um mich herum geplatzt, die alles in Zeitlupe verlaufen lässt und meine Augen fliegen automatisch zu der Bewegung, die ich am Rande meines Sichtfeldes wahrnehme. Mein Gehirn kann das Gesehene nicht so schnell verarbeiten – es weigert sich schlichtweg seinem Sehsinn Glauben zu schenken – und so höre ich zuerst die Schreie. Das erste Brüllen kann ich mit Daimon in Verbindung bringen, doch das schrille Ächzen kann ich leider nicht zu ordnen. Mein Herz bleibt stehen und ein Druck lässt sich auf meiner Brust nieder, den ich nicht mal in Worte fassen kann. Es scheint so als ob ein riesiger Ball aus Emotionen sich auf meinem Herzen niedergelassen hat, der mich mit einem Volltreffer in ein tiefes Loch katapultiert.

Was ist geschehen? Ist er...? Lebt er...? Ich meine... Mein Atem geht viel zu schnell und in meinem Kopf herrscht eine derartige Verwirrung, dass ich für einen Augenblick nur spüren kann. Verzweiflung. Angst. Hoffnung, die sogleich von all den negativen Emotionen untergraben wird. Sorge. Trauer. Liebe und Verlust, die sich in diesem Moment zu einer Einheit verbinden. Die Situation ist derartig surreal, dass ich mich am liebsten in den Arm gezwickt hätte, um zu überprüfen ob ich mental noch anwesend bin. Doch nicht einmal das bekomme ich zustande, denn mein Körper läuft genauso wie mein Verstand auf Sparflamme und unterstützt nur die nötigsten Funktionen.

Meine Augen haben sich an einem unberührten Fleckchen Marmor festgesaugt, das weder von Blut noch von Ruß oder Menschenresten besudelt wird. Es scheint das einzig normale hier zu sein und vielleicht bin ich deshalb unfähig meinen Blick abzuwenden. Doch der Augenblick der chaosvollen Ruhe hat ein reges Ende, als sich plötzlich Bilder in meinen Kopf schleichen. Das Geschehene, das zuvor nicht verarbeitet werden konnte, läuft erneut vor meinen Augen ab und füllt somit meine Wissenslücken.

Zuerst sehe ich die kleine Minimauer, die trotz meiner Anstrengungen nicht mehr als ein paar Zentimeter beträgt und spüre wie das Bewusstsein in mich eindringt, dass ich es nicht schaffen werde. Dann nehme ich eine Bewegung im Augenwinkel wahr und als mein Blick zu Daimon zuckt, sehe ich wie eine Gestalt in Alltagskleidung sich vor ihn wirft. Wieder ertönt das Brüllen des Prinzens, doch es ist kein Schmerzensschrei sondern eher ein Ausdruck des Schocks. Denn in genau diesem Moment trifft die Kugel den Körper der Person und obwohl ich nicht genau sehen kann, wo genau der Unbekannte getroffen wurde, weiß ich, dass es kein direkter Schuss ins Herz war. Noch taumelt die Gestalt nämlich und versucht sich an Daimon anzulehnen, der zwar sein bestes tut um den Verletzten zu stützen, schließlich aber nichts mehr für ihn tun kann, als ihn sanft zu Boden gleiten zu lassen.

The chosen princessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt