Kapitel 23

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Ich wünschte, ich hätte dich nach deiner Geburt einfach in ein Waisenhaus gegeben. Dann hätten wir dich wenigstens nicht am Hals schreien die Stimmen in einer Endlosschleife durch meinen Kopf. Unaufhaltsam und ohne montierten Stoppknopf erreichen die Worte Australien und lassen mein Herz zersplittert auf dem verdorrten Boden zurück. In diesem Moment bin ich viel zu betäubt um irgendetwas zu spüren, doch trotzdem überrollen mich meine Fähigkeiten wie ein Wall aus Energie. Irgendwo in meinem Inneren ist eine Stimme, die sich darüber Sorgen macht, doch sie geht in der Menge an Rufen und gefühlsloser Kälte unter.

>>Raus<<, stoße ich hervor und die Worte hallen kräftig von den Wänden wieder. Meine Mutter, die ansonsten keinerlei Gespür für mich hat, kommt meiner Aufforderung ohne Zögern nach. Wahrscheinlich blinken in meinem Gesicht regelrechte Warnzeichen eines Zusammenbruchs auf, doch das stört mich gerade nicht im Mindesten. Ganz im Gegenteil, solange mich die Frau, die sich als meine Mutter betitelt, endlich in Ruhe lässt, ist mir der Verlust meiner undurchdringlichen Maske komplett egal.

Das Knallen der Tür hört sich wie ein Todesstoß an, trotzdem atme ich erleichtert aus, als ich nicht mehr in das Gesicht von Linda sehen muss. Doch die Befreiung hält nicht lange an, denn plötzlich scheint auch mein Verstand ihre letzten zwei Sätze zu verarbeiten. In diesem Moment fühlt es sich so an als würde sich die Emotionslücke mit einem Ruck schließen. Auf mich prasseln so viele Empfindungen ein, dass es unmöglich erscheint sie alle zu benennen.

Trotzdem fühle ich den Schmerz und die Gewissheit darüber, von meinen Eltern nie geliebt worden zu sein. Natürlich habe ich es geahnt, dennoch habe ich diese Vermutung am Rand meines Sichtfeld vor sich hin schmoren lassen, nur um sie in diesem Moment bestätigt zu sehen und zu merken, wie lange ich mich vor der Wahrheit verschlossen habe. Es ist ein weiterer Schlag ins Gesicht. Und scheinbar auch der letzte Tropfen in einem bis zum Rand gefüllten Fass.

In diesem Moment wird die Wallung in meinem Blut zu einem regelrechten Orkan in meinem Innern. Meine Fähigkeiten wurden von der Wut und der Trauer, die sich irgendwo in dem See an Emotionen verbirgt, geweckt und nun scheinen sie sich nicht mehr aufhalten zu lassen. So schnell wie möglich flüchte ich ins angrenzende Badezimmer und drehe den Schlüssel im Schloss um, bevor ich die Manifestation meiner Kräfte nicht länger unterdrücken kann. Kälte bricht aus mir heraus und in dem Strom aus Energie schießt mir durch den Kopf, dass wohl die Trauer in meinem Gefühlschaos die Oberhand erlangt hat.

Langsam wird der Strom der aus mir dringt weniger und ich klammere mich gelöst am Waschbeckenrand fest, als der Druck gänzlich nachlässt, der beim Zurückhalten meiner Begabung entstanden ist. Es kostet mich jedes Mal eine unvorstellbare Kraft und das obwohl ich schon von klein auf daran arbeite, sie besser in den Griff zu kriegen. Doch etwas so Starkes und Wildes lässt sich nicht so einfach in einen Käfig zwingen. Manchmal muss ich daran denken, wie es wäre nicht länger dagegen anzukämpfen, es einfach frei zu lassen, doch dann kommen mir die vielen Menschen in den Sinn, die ich damit vielleicht verletzten könnte und nicht zuletzt die Angst davor, mit so einem Ausbruch mein Schicksal zu besiegeln. Und damit für immer eine Außenseiterin zu sein. Ungeliebt. Geächtet. Gefürchtet.

Kraftlos lasse ich meinen Kopf noch ein bisschen weiter gen Waschbecken sinken, während meine Haare mein Gesicht wie einen dunkelbraunen Vorhang umspielen. Aus dem Augenwinkel kann ich sogar meine weiße Haarsträhne ausmachen, die zwischen den dunklen Strähnen hervorblitzt. Ich seufze. Gegen mein Tattoo und den Weißtupfer in meinen Haaren hatte ich eigentlich nie etwas einzuwenden, doch diese Fähigkeiten...

Manchmal weiß ich einfach nicht wie lange das mit meinem Geheimnis noch gut gehen wird. Besonders in diesem Wettbewerb. Dennoch, ich kann hier nicht weg. Ich möchte Cassie hier nicht alleine lassen und hoffe außerdem immer noch auf eine Chance mich beim General höchstpersönlich zu bewerben. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist es auch keine Möglichkeit mehr ins Haus meiner Eltern zurückzukehren. Erst durch ihre Abwesenheit habe ich gemerkt wie viel Macht sie selbst nach dem Brechen der Regel Nummer eins: Verlasse unter keinen Umständen das Haus, noch über mich haben. Eine Tatsache, die ich auf keinen Fall auf sich beruhen lasse.

The chosen princessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt