Kapitel 95

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Mein Blick zuckt umher wie eine unruhige Katze mit Flohbefall, aber in meinem Gefühlschaos aus Schock, Angst und essenzieller Panik bin ich gerade nicht in der Lage mich für einen Bereich zu entscheiden. Und so nehme ich alles nacheinander in mir auf. Und zwar wieder und wieder im selben Muster. Zuerst tackern sich meine Augen an Daimons verwirrter Miene fest, als er immer wieder nach unten zu seinen Füßen linst und versucht sich fortzubewegen. Dann schweife ich weiter zu Sken, der immer noch wie ein unheimlicher Henker vor mir aufragt, sein Gesicht aber mittlerweile von mir abgewendet hat, um dabei zuzusehen wie seine geordnete Show sich in ein heilloses Tohuwabohu verwandelt. Nun nehme ich die Mitglieder der Organisation in Augenschein, die mit ihren Gasmasken aussehen als wären sie einem Katastrophenfilm entsprungen, bevor ich kurz darauf zur anderen Seite schweife, wo die uniformierten Koslower bereits nach ihren Waffen greifen.

Mittlerweile habe ich einen Zustand der vollkommenen Abschottung erreicht und nehme alles so war, als würde nicht ich hier gefesselt an einem Stuhl vor mich hinvegetieren. Es wirkt viel mehr so als wäre ich im Zuge eines verrückten Spiels in die Rolle eines anderen neunzehnjährigen Mädchens geschlüpft, das sich jetzt mit dieser Situation konfrontiert sieht. Denn das kann unmöglich real sein. Ich meine, wie konnte es binnen weniger Sekunden nur zu dieser Art der Eskalation kommen?

Langsam erwache ich aus meinem Dämmerzustand aus Unglauben und rasenden Herzschlägen, die wie Kanonenfeuer in meinem Kopf dröhnen. Doch es braucht wieder einmal meine innere Soldatin, damit ich nicht nur wie ein verschrecktes Reh von einer Szene zur nächsten wechsle, sondern auch tatsächlich damit beginne endlich mein Hirn anzustrengen. Verdammt, tu endlich etwas!, schreit mir eine Stimme zu, die ein verrückter Mischmasch aus mir, meinem Kampflehrer und Daimon darstellt.

Und plötzlich ist es so als hätte man einen Kübel Eiswasser über mir ergossen, um mich aus einem tiefen Schlaf zu wecken. Gedanken stechen mir wie Nadeln ins Hirn und ein weiterer Schuss Adrenalin sorgt dafür, dass sich all meine Sinne zu schärfen scheinen. Ich spüre wie mich eine eigentümliche Stille überschwappt, die mir bis jetzt noch bei jedem Angriff aus der Patsche geholfen hat. Denn jetzt ist alles ganz scharf und ich muss nicht mehr blindlings den Kopf von einer Richtung zur anderen drehen, weil mein Kopf die Lücken füllt, die meine Sicht hinterlässt.

So weiß ich ohne hinzusehen, dass Daimon nur noch wenige Sekunden davon entfernt ist zu verstehen, dass ich für seine Bewegungslosigkeit verantwortlich bin und ich mich ab da wohl darauf einstellen sollte, mit einem durchdringenden Blick bestraft zu werden. Wahrscheinlich wird er auch eine Fluchsalve ausstoßen und mich innerlich mit Feuerpfeilen erschießen, aber das soll mir nur recht sein so lange er nur brav weiteratmet. Und was Sken angeht, habe ich vermutlich erst einmal nichts mehr zu befürchten, denn obwohl er nur knapp vor mir steht, wird er sich nicht die Mühe machen, meinen Todesakt zu vollziehen, wenn nicht die volle Aufmerksamkeit auf ihm liegt.

Was gerade absolut nicht der Fall ist, da sich unter den Zuschauern schon vermehrt Schreie und aufgeregte Rufe aus den Kehlen lösen, während bei allen von einer Sekunde auf die andere das Sprechverbot entfällt. >>Ist das die Kavallerie zu unserer Rettung?<<, vernehme ich Cassies erstickte Frage neben mir, doch ich finde im Rausch meiner Gedanken keine Zeit ihr zu antworten. Ehrlich gesagt würde sich die Erwiderung auch als äußerst kompliziert erweisen, da ich ihr weder eine Lüge auftischen noch mit einem knappen ,,Nein, nicht wirklich" all ihre Hoffnungen zerstören möchte.

Denn soweit meine Augen es richtig verfolgen, steht an der Spitze der hereinströmenden Menschenmenge Rave, die durch ihr tiefschwarzes Haar und die katzenartige Haltung unverkennbar ist. Wie eine majestätische Statue steht sie da und reckt ihren Arm mit einem kleinen zierlichen Apparat in die Höhe, der zwischen ihren Fingern beinahe vollständig verschwindet. Trotzdem erkenne ich das Quadrat als die Fernbedienung, die ich ebenfalls kurz nach ihrer Fertigstellung in den Händen gehalten habe, während ich mir dabei vorstellte wie ein einziger Knopf unseren Sieg besiegeln wird. Doch als Rave jetzt ihren gestreckten Daumen auf den roten Schaltkreis senkt, hat das nichts Feierliches oder Endgültiges an sich. Denn obwohl man diese zwei Dinge ganz klar an der Bewegung und ihrer ganzen Haltung ablesen kann, folgt auch zehn Sekunden später keine ehrfürchtige Stille oder eine Reihe umkippender Koslower.

The chosen princessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt