Kapitel 9

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Warum muss mich die Reporterin unbedingt etwas in Bezug auf meine Familie fragen? Jeder in meinem Umfeld weiß, dass das ein absolutes Tabuthema für mich ist. Aber die Reporterin ist eben nicht Teil meines Bekanntenkreises, sondern eine vollkommen fremde Person, für die so eine Frage ganz normal zu sein scheint. Allein die Tatsache, dass mein Körper so heftig auf das Thema Familie reagiert ist schon ein Indiz dafür, wie sehr mich der Verstoß meiner Familie trotz der vielen lieben Menschen in meinem Leben negativ geprägt hat. Und genau das hasse ich so sehr daran, dass es mir nach all den Jahren immer noch nicht egal ist.

Aber jetzt ist keine Zeit meine ganze traurige Familiengeschichte gedanklich wieder aufzurollen. Ich bin schon zu lange still. >>Ich bin meinen Adoptiveltern natürlich sehr dankbar, dass sie mich aufgenommen haben, dennoch hatten wir nie ein gutes Verhältnis. Wahrscheinlich weil es mich eher zu einem Leben in der Unterschicht hingezogen hat. Natürlich ist der Luxus, den mir die Montgomerys geschenkt haben, nicht zu verachten. Und sie haben auch immer gut für mich gesorgt, aber ich hatte immer das Gefühl nicht in die Oberschicht zu passen. Deshalb bin ich auch umso dankbarer, dass sie mich vor der Öffentlichkeit und dieser fremden Welt beschützt haben<<, erzähle ich, wobei ich so wenig Informationen wie möglich in meine kurze Rede packe. Je weniger Informationen ich nenne, desto geringer ist die Chance, dass sich meine Antwort mit der Lüge meiner Eltern beißt und der ganze Schwindel auffliegt.

So sehr ich es genießen würde meine Eltern in den gesellschaftlichen Ruin zu treiben, könnte ich das nicht, ohne zumindest einen Teil der schmerzlichen Wahrheit zu offenbaren. Und wer gibt schon gerne vor laufender Kamera zu von seinen Eltern verstoßen worden zu sein? Ich jedenfalls nicht. Ehrlich gesagt möchte ich auch ansonsten so wenig wie möglich über dieses Thema reden. Denn alles was ich gerade gesagt habe war eine riesen große Lüge, die sich in meinem Hals angefühlt hat wie Schmirgelpapier. Ich habe gewusst, dass sich meine Eltern eine Lüge ausdenken werden, um mit unbeschädigtem Ruf aus dieser Sache rauszukommen und ich muss wiederwillig zugeben, dass ihnen das nur allzu gut gelungen ist.

Wahrscheinlich werden sie in der Gesellschaft sogar gefeiert. Ein Ehepaar mit einem so großen Herzen, dass sie sogar ein rebellisches Waisenkind aufnehmen, das in der Öffentlichkeit in Jeans rumläuft. Vor meinem inneren Auge kann ich das Bild meiner Eltern, an dem großen Esstisch sehen, an dem sie gerade bestimmt mit ihren Freunden aus der Oberschicht sitzen, mit teurem Champagner anstoßen und dabei über das Waisenkind lästern, das in seinem ganzen Leben nur Ärger gemacht hat. Ich durfte bisher noch keine einzige Mahlzeit an diesem Tisch einnehmen. Dieser Tisch ist für die Familie und reiche Gäste vorgesehen, höre ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf, und das schließt dich nun mal aus. Schnell verscheuche ich die Erinnerung.

>>Dann bedanke ich mich für das Interview ihr Beiden. Ich freue mich schon auf euer kommendes Date.<<, höre ich wie aus weiter Ferne die Stimme der Reporterin. Die ganze Szene wirkt in meinen Augen total entrückt. Alle scheinen von dem Interview kein bisschen emotional berührt zu sein, während die alten Lasten meiner Kindheit erneut die Verfolgung aufgenommen haben. >>Ich danke Ihnen Jennifer. Es ist immer ein Vergnügen mit Ihnen. Wir werden uns sicher bald bei einem weiteren Interview sehen<<, verspricht Macen und nimmt meine Hand, um mir vom Stuhl aufzuhelfen.

Wie in Trance werfe ich ihm ein dankbares Lächeln zu. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das mit meinen Wackelpuddingbeinen eigenständig geschafft hätte. >>Schönen Abend noch<<, erwidere ich höflich und fühle mich dabei eher wie ein Roboter und weniger wie ein lebendiges, atmendes Wesen. Wenigstens kann ich sicher sein, dass mein Pokerface noch perfekt sitzt. Macen nickt dem Kamerateam noch kurz zu, bevor er mich mit sich zum Ausgang zieht.

Kaum sind wir aus der Tür, bleibt Macen ruckartig stehen und dreht sich mit besorgtem Gesichtsausdruck zu mir um. >>Alles gut bei dir? Du siehst etwas blass um die Nase aus und ansonsten wirkst du irgendwie als könntest du dich kaum auf den Beinen halten<<, fragt der Prinz und sein sonst so charmant-amüsanter Tonfall ist auf einmal ganz ernst geworden. Immer wieder verwunderlich wie gut Macen die Menschen durchschauen kann. Sein Einfühlvermögen muss wohl sehr ausgeprägt sein.

The chosen princessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt