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Das Gras ist weich und kühl. Der Baumstamm in meinem Rücken hart und warm.
Ich lehne meinen Kopf zurück und drehe ihn zur Seite.
Jaces Gesicht ist immer noch mit geschlossenen Augen Richtung Himmel gerichtet. Seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig und ruhig.

"Guck woanders hin", sagt er nach einer Weil neckisch.
Seine Lippen heben sich.
"Das macht mich nervös."
"Was?", entfährt es mir ungläubig.

Jace lacht kehlig auf und öffnet die Augen.
Im lichten Schatten der Eiche wirkt sein blaues Auge weniger dramatisch. Ich versuche mich nicht auf die Blessuren in seinem Gesicht zu konzentrieren, sondern auf das Drumherum.
Auf ihn.

"Was ist los?"
Seine Frage überrascht mich.
"Was soll los sein?", frage ich und lege die Stirn in Falten.
"Ich sehe, dass etwas mit dir ist."

Jace hebt eine Hand. Sein Finger kommt meinem Auge ganz nah, aber ich zucke nicht zurück.
"Da drin."
Ich beobachte seine Lippen dabei, wie sie die Worte formen.
"Ich sehe, dass etwas passiert ist."

Wie kann er das sehen? Woher kann er mich so gut lesen?
Braucht er mich wirklich nur ansehen, um zu wissen, was ich versuche zu verbergen?
Ich wende den Blick ab, doch sein Zeigefinger dreht meinen Kopf wieder zu ihm.
Den kleinen weißen Hund, den ich eben fixiert habe, kommt ein Stück auf uns zugelaufen, doch sein Herrchen ruft ihn zurück.

"Ich sehe dir an, dass dich etwas innerlich auffrisst. Heute mehr als sonst."
Bei seinen warm gesprochenen Worten beginnt meine Unterlippe zu zittern.
Ich entreiße ihm mein Kinn und wische mir verstohlen die Augen.
"Einfach ein paar harte Tage gehabt", antworte ich dann mit belegter Stimme.

Unsicher schaue ich wieder in seine Augen, die unergründlich auf mir liegen, mich mustern. Lesen.
"Ich hatte einen Streit mit meinem Bruder. Er ... Er hat ein paar sehr verletzende Sachen zu mir gesagt, die mich beschäftigen und ich mache mir Vorwürfe, weil ich seine Worte immer noch so sehr an mich herankommen lasse."

Ich seufze tief und falte meine Hände auf meinem Schoß.
"Bescheuert ich weiß."
"Ist es überhaupt nicht", sagt Jace bestimmt.
Seine Augenbrauen sind immer noch zusammengezogen. Er sieht mich aufmerksam an, setzt sich auf.

"Hey."
Er platziert seinen Handrücken sanft auf meinem Oberschenkel, wie ein Angebot.
Seine langen Finger sind geöffnet, ich kann entscheiden, ob ich meine Hand in seine lege.
Ich beiße auf meine Unterlippe, um das Grinsen zu verbergen, das in mir aufkeimt.

Jace biete an mir zuzuhören, mich aussprechen zu lassen, was ich fühle.
Seine Handfläche liegt groß und einladend vor mir und ich ergreife sie, schiebe meine Hand in seine.
Etwas in meiner Brust flattert, als ich aufsehe und bemerke, dass Jace auf unsere verschränkten Hände schaut, seine Lippen geteilt, die Stirn glatt.

Er drückt meine Hand und ich erwidere seine Berührung, bestätige ihm, was auch immer wir uns gerade ohne Worte gesagt haben.
"Da gibt es etwas ... dass ich dir sagen muss", flüstere ich.
Grüne Augen blicken auf.

"Mein Bruder hat- "
Ich ringe nach Luft. Plötzlich kommt es mir so vor, als hätte jemand allen Sauerstoff aus der Luft gezogen.
"Er hat vor knapp einem Jahr versucht sich das Leben zu nehmen."

Ich erschrecke vor mir selbst. Dieses Geheimnis hat bis jetzt noch nie meine Lippen verlassen.
Mit geweiteten Augen sehe ich Jace an.
Sein Griff um meine Hand festigt sich.
"Das hätte ich nicht sagen sollen", japse ich, will mich ihm entziehen, doch er lässt es nicht zu.

"Warum hat er es getan?", fragt er leise und lehnt sich wieder etwas zurück.
Seine Augen weichen nicht eine Sekunde von mir und mit einem Mal ist da wieder diese Blase um uns und ich kann alles ausblenden.
Die spielenden Kinder vor uns auf der Wiese. Das Paar, das auf einer Picknickdecke in der Sonne sitzt und Musik hört, und auch den Mann mit dem weißen Hund.

Ich vergesse meinen Vater, seine Erwartungen und den neuen Mini, der auf dem Parkplatz auf mich wartet und mich daran erinnert, diese Erwartungen zu erfüllen. Ich vergesse meine Mutter,  die so weit weg von mir ist.
Ich bin nicht bei diesen Menschen. Ich bin hier. Bei Jace.
Ich atme langsam ein und schaue auf die gebräunte Hand, die meine fest umschlossen hält.

Die nächsten Worte fallen mir schwer, sie liegen wie tonnenschwere Nadeln auf meiner Zunge und quälen mich.
"Mit Anfang zwanzig hat er angefangen Drogen zu nehmen."
Ich blicke kurz auf, nur um danach schnell wieder meine Augen niederzuschlagen und mit meiner anderen Hand über Jaces rauen Handrücken zufahren.

"Er ist abgerutscht, wollte unseren Dad provozieren. Aber am meisten wollte er, glaube ich, dem Leben entkommen, das wir lebten. Er sollte mit zweiundzwanzig in die Firma meines Vaters einsteigen und ... das hat er einfach nicht gepackt. Er hat sich mehr und mehr verschlossen, keinen mehr an sich herangelassen, ständig Streit gesucht."

Jaces Daumen fängt meinen Zeigefinger ein, der nervös über seine Haut streicht.
"Und irgendwann lag er dann mit aufgeschnittenen Pulsadern oben im Bad und -"
Meine Stimme bricht.
"Unsere Mutter hat ihn gefunden."

Mein Kinn fällt auf meine Brust, ich bin unfähig Jace mit tränenerfüllten Augen entgegenzublicken.
"Er hat nur knapp überlebt und seitdem habe ich das Gefühl, dass er das Leben noch mehr hasst als zuvor. Schlimmer noch; er hasst uns. Er hasst mich!"
Ich balle meine freie Hand zu seiner Faust, ziehe die Knie an, drücke Jaces Hand an meinen Bauch.

Jace neben mir atmet schwer auf.
"Nach diesem Vorfall hat meine Mutter einen treuen Freund im Alkohol gefunden. Den Rest dieser Geschichte kennst du ja bereits."
Ich ziehe die Schultern hoch, tue alles um mich klein und schier unsichtbar zu machen.

Es ist fast, als würde mein Körper aus einem Instinkt heraus versuchen, meine Geheimnisse in sich zu halten.
Doch ich will die Worte, die mir auf der Zunge liegen, nicht länger zurückhalten. Ich will sie Jace sagen - alle.

"Ich ertrage es nicht, wie sehr er mich hasst, verstehst du das? Ich bin schuld, ich habe ihn alleine gelassen, ich habe nicht gemerkt, dass es ihm schlecht geht. Und obendrauf tun Mom und Dad so, als ob nie etwas passiert ist. Sie lassen ihn machen, sie setzen ihm keine Grenzen! Er hat keine Pflichten mehr! Dafür muss ich hinhalten - immer und für alles."

Ich schüttle den Kopf und ein bitteres Lachen mischt sich zu meinen feuchten Augen.
"Ich bin einfach so, mir nichts dir nichts, an seine Stelle aufgerutscht. Vielleicht hasst er mich ja deshalb."
Jace zieht an meiner Hand.

"Ich kenne deinen Bruder nicht. Aber ich glaube nicht, dass du seinen Hass verdienst. Das darfst du nicht glauben, hörst du?"
Er sieht mich durch dichte Wimpern fragend an.
"Vielleicht will er dich nur vor sich selbst schützen und stößt dich deswegen von sich. Nicht weil er dich hasst ... sondern weil er dich liebt."

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Song: Je te laisserai des mots - Patrick Watson

Hi :3

Langer, stressiger Tag heute ahh

Hiermit ist ja auch erstmal wieder Pause, nächstes Kapi kommt also am Mittwoch, nach den freien Tagen.

Kommentare beantworte ich Morgen! Love u all!

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt