17.

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"Er ist gegen einen Baum gefahren."
In meinen Ohren dröhnt es.

Gegen einen Baum?
Aber wie kann das sein? Wieso sollte er gegen einen Baum fahren?
Mit Entsetzen in den aufgerissenen Augen schaue ich meine Mutter an, stelle im Stillen die eine Frage, die ich nicht über meine Lippen bringen kann.

"Das wissen wir nicht", antworte sie, nachdem sie in meinen Augen gelesen hat.
Dad stellt sich Dad neben Mom, legt ihr eine Hand auf die Schulter, lässt sie aber gleich wieder fallen.
"Dein Bruder ist jetzt im Krankenhaus und wird versorgt. Es geht ihm den Umständen entsprechend. Der Aufprall war nicht stark genug, um ernsthaften Schaden anzurichten. Er hat wohl nur einen gebrochenen Arm."

Er berichtet das so kühl, dass ich mich vor seinen Füßen übergeben könnte.
Kein ernsthafter Schaden also. Der Aufprall muss meines Erachtens heftig gewesen sein; ein Arm bricht sich schließlich nicht von selbst.
Dann schleicht sich ein kleiner Gedanke aus dem Hintersten meines betäubten Gehirns in den Vordergrund.

Mit welchem Auto ist er gefahren?
Moms Wagen steht unversehrt in der Einfahrt und ich vermute, Dads befindet sich sicher hinter dem verschlossenen Garagentor.
"Mit welchem ..."

Die Worte bleiben mir im Hals stecken.
Meine Hand wandert instinktiv zu meiner Brust und legt sich über die Stelle, von der aus sich wieder dieses bedrückende Gefühl ausbreitet.

"Benedikt ist mit deinem Auto gefahren", antwortet mein Vater.
"Sag das noch mal."
Mein Brustkorb füllt sich.
Mit Wut. Pechschwarzer, brodelnder Wut.

"Spätzchen, hast du dich überreden lassen, ihm dein Auto zu geben?"
"Was?", krächze ich.
"Oder warum bist du von Jessica nach Hause gefahren worden? Hat er dich gebeten es ihm für den Nachmittag zu überlassen?", fragt er unbeirrt weiter.

"Hörst du dir gerade selbst zu?"
Ich kann die heißen Tränen, die aus meinen Augen quellen, nicht aufhalten.
Durch das Auto meiner Mutter und die aufsteigende Panik in meiner Brust habe ich gar nicht bemerkt, dass mein Auto fehlt.
Ich bin einfach blind zum Haus gestürmt.

Ich sinke in mich zusammen, mein Herzschlag plötzlich unendlich laut in den Ohren.
Ben hat mein Auto genommen. Schon wieder.
"Wieso sollte ich diesem Nichtsnutz mein Auto geben, wenn er es doch erst vor ein paar Tagen kaputt gemacht hat?"

Meine Stimme wird bei jedem Wort lauter, tiefer und drohender.
Adrenalin, gemischt mit der zähnefletschenden Wut, pulsiert durch meine Adern.
Ich kann nicht glauben, dass mein Vater die Frechheit besitzt, mich so etwas ins Gesicht zu fragen.
Ich blicke zu meiner Mutter, die bei meinen Worten die Luft einzieht.

Sie sitzt nach wie vor kerzengerade auf dem Sofa und schaut auf den schwarzen Fernseher.
"Ich erinnere mich, Spätzchen, aber ich meine ja nur -", setzt mein Vater an.
"Du meinst nur?!"
Ich schnappe nach Luft.

"Beruhige dich, Ophelia. Das ist hart für uns alle, aber wir müssen herausfinden, warum er das getan hat."
"Was, wenn es ein Unfall war?", erhebt meine Mutter die Stimme.
Dad und ich wenden ihr den Kopf zu.

Ihr aufgedunsenes Gesicht ist uns nicht zugewandt, doch ich sehe, wie ihre Augen zu uns, ihrer Familie, herüber huschen.
Ich schlucke hart.
Natürlich war es ein Unfall. Es ist immer ein Unfall.

"Wie lange wisst ihr schon davon? Ich meine, es ist ..."
Ich blicke mich zur Standuhr um, die beruhigend ihr Pendel schwingt, so als wäre heute ein ganz normaler Abend, in einer ganz normalen Woche und wir eine ganz gewöhnliche Familie.
"Es ist kurz vor zehn", bringe ich atemlos hervor. "Ihr hättet mich anrufen müssen, anstatt hier zu sitzen und auf mich zu warten, während ich ahnungslos bei Jessica bin!"

Ich wünschte, ich könnte sie lauter anschreien.
Aber irgendwie ist da keine Kraft mehr in mir. Ich ... ich kann nicht mehr.
Ich hebe meine Tränen gefüllten Augen und suche im Gesicht meines Vaters nach dem Anzeichen von Sorge, Angst, Wut - irgendetwas.

Doch er steht nur neben der Vitrine und betrachtet seine beiden Mädchen wie ein Außenstehender.
Früher waren wir jedenfalls seine beiden Mädchen.
Es ist schon eine Ewigkeit her, dass er diese drei Worte an uns adressiert hat.
Ich schlucke und schaue auf den weißen Teppich unter mir.

Wie gerne würde ich mich jetzt einfach darauf fallen lassen und zusammenrollen.
"Warum habt ihr mich nicht angerufen?"
Meine Stimme ist nicht mehr als ein Wispern.
"Was hätte das gebracht?", stellt mein Vater die Gegenfrage.

Empört lache ich auf.
"Was das gebracht hätte? Ich hätte Bescheid gewusst und wäre sofort kommen."
"Und was hätte das gebracht?"
Ich schlage meine Augen nieder, habe kein Argument mehr.

Denn die bloße Moral zählt für meinen Vater nicht. Sie schlägt seine Rationalität nicht.
Ich bin machtlos.
"Wann habt ihr Bescheid bekommen?", will ich dann von meiner Mutter wissen.
Ich hoffe inständig, dass sie mir antworten wird und nicht mein Vater.

Seine Stimme in meinem Ohr kann ich in diesem Moment nicht mehr tolerieren.
Es ist meine Mutter, die die Stimme erhebt. Zum Glück.
"Kurz nach fünf haben sie ... sie angerufen."
"Wer?"
"Die ... Polizei."

Hastig wischt sie über ihr Gesicht und verteilt ihren feinen Eyeliner über ihren Wangenknochen.
"Wenn das kein Unfall war ... Wir müssen ihn betreuen lassen, er darf nicht einfach -"
"Es war ein Unfall", fällt mir die Frau mit dem perfekten Haarschnitt bestimmt ins Wort.
"Wir können so nicht weiter machen, etwas muss sich ändern, wir müssen -"

"Genug, Ophelia."
Mein Vater tritt an mich heran und ich spüre seine Berührung an meinem Rücken.
Ich entwinde mich seiner Hand.
"Wir werden Morgen versuchen, weiteres herauszufinden. Bis dahin können wir nichts machen."

"Hier geht es ums Prinzip, Dad, verstehst du das nicht?"
"Genug!"
Resigniert fahre ich über meine roten Wangen.
"Schön. Ihr seid ja mal wieder schlauer als ich, ich sehe schon. Ich bin in meinem Zimmer, falls noch ein Anruf kommen sollte."

Ich wirbele herum und stürme durch die Eingangshalle, die Treppe hinauf.
Meine Eltern scheinen immer noch der Meinung zu sein, dass man auch mit fest verschlossenen Augen alle Problemen dank einem Echolot ausweichen kann.
Nur leider besitzen sie ein solches Echolot nicht. Es ist nicht vorhanden, eine kindische Fantasie! Und kein Geld der Welt kann es kaufen!

Sich einzubilden, man besitze es, ist gefährlicher, als ignorant durchs Leben zu wandeln.
Denn manchmal, wenn ich sie mir so ansehe - wenn ich Dad ansehe -, dann glaube ich wirklich, dass er denkt, er tut etwas, er hilft.
Dabei macht er es mit seiner beschwichtigenden, alles verharmlosenden Art nur schlimmer.

"Ich halte das nicht mehr aus", keuche ich in meinem Zimmer und werfe mich auf mein Bett.
Ich wünschte, ich hätte jetzt jemanden bei mir, mit dem ich reden könnte.
Ich starre auf mein Handy, berühre aber weder Jessicas noch AJs Kontakt.
Stattdessen lausche ich in die Stille und dem Dröhnen meiner Ohren.

Irgendwann nehme ich schlaftrunken und mit vor Tränen brennenden Wangen Dads Stimme wahr.
Er telefoniert. Er regt sich auf.
Seine Stimme ist tief und bedrohlich, aber ich kann den genauen Wortlaut nicht ausmachen.
Mom geht in die Küche, ich höre den Wasserhahn.

Wahrscheinlich gießt sie sich wieder Wodka in ihr Wasserglas und denkt, Dad würde es nicht merken. Ich liege mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und lausche in die plötzlich eingekehrte Stille.
Ich wünschte, ich könnte sie vertreiben und das sie nie wieder kommen würde.

_________________
Song: Jealous - Labrinth 

Good afternoon everybody :) 

Hope you're doing good - at least better then Ophelia ...

So langsam seht ihr ja, mit was für einer Familiendynamik wir es zu tun haben...

Kennt ihr dieses Gefühl, wenn ihr vor Menschen steht & absolut machtlos seid, weil keines eurer Worte ernst genommen wird (mostly weil die Person leider einfach DUMM wie Scheiße ist)? Ich kenne das leider nur zu gut :/ Und für mich ist es eines der frustrierendsten Gefühle überhaupt. 

Well, see u tomorrow <3

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt