18.

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Der Bahnhof empfängt mich mit seiner üblichen ungemütlichen Stimmung.
Es ist kalt an diesem Morgen und ich wünsche mir Handschuhe an meine Finger, als ich den nächsten Song in meiner Playlist überspringe.

Kaputtes Auto bedeutet auch: Mit der Bahn zur Uni fahren.
Noch vor zwei Wochen hätte ich leider gesagt. Doch jetzt ist irgendwie alles anders.
Auch wenn ich Ben gerade hasse und dafür verfluche, dass er meinen geliebten Mini in einen Schrotthaufen verwandelt hat ...

... mit der Bahn zu fahren, hält auch die Möglichkeit bereit, Jace wiederzusehen.
Und genau nach diesem jungen Mann suchen meine Augen von dem Moment an, als meine Füße auf dem altbekannten Bahnsteig aufgekommen sind.

Es dauert genau eine halbe Minute, zehn langsame Schritte.
Da sehe ich ihn im Schneidersitz vor dem Getränkeautomaten sitzen.
Seine langen Beine sind perfekt untereinander geschoben. Seine großen Hände ruhen locker auf seinen Knien.
Erst traue ich meinen Augen nicht, glaube nicht an diesen Zufall. Er kann es nicht sein.

Aber alles stimmt: Die Lederschuhe, die schwarze Regenjacke, die schwarze Mütze und ... der kleine weiße Plastikbecher.
Und die graue Wolldecke.
Sie gehört also wirklich zu ihm.
Ungläubig kneife ich meine Augen zusammen, um auch wirklich sicherzugehen, dass ich nicht halluziniere. In der letzten Nacht habe ich nämlich fast kein Auge zu getan.

Ich spüre immer noch das Brennen der unzähligen Tränen, die ich vergossen habe.
Jace sieht auf. Natürlich nicht in meine Richtung.
Er blickt hinter einem Passanten her, der achtlos an ihm vorbeiläuft, den Blick demonstrativ und stur geradeaus gerichtet.

Zwischen uns liegen noch einige Meter, dennoch zieht sich mein Herz beim Anblick seines Gesichtsausdrucks zusammen.
Es ist der Gesichtsausdruck eines Menschen, der in ein paar Sekunden seine ganze Existenz hinterfragt.

Ja, er bereut sie womöglich.
Jedenfalls sehe ich ganz deutlich Reue auf seinem Gesicht aufblitzen.
Aber da ist noch etwas. Ein dunkler Schatten schwebt um sein linkes Auge.
Ich überlege nicht lange und gehe zu ihm.

Langsam. Beinah von Angst erfüllt.
Vielleicht wird er es als unangemessen empfinden, wenn ich ihn anspreche.
Soll ich ihm Geld in seinen kleinen Becher werfen?
Nein. Das würde sich falsch anfühlen, nachdem wir zusammen gelaufen sind.

Oder kann ich unseren gemeinsamen Fußweg einen Spaziergang nennen?
Ich überlege, mit in Falten gelegte Stirn und bemerke zu spät, dass ich bereits bei Jace angekommen bin und vor ihm stehe.
Er hebt den Blick, seine grünen Augen finden meine, während ich noch nach einer Bezeichnung für unsere verbrachte Zeit suche.

"Oh", sage ich.
"Hallo Ophelia."
"Hallo. Jace."
Ich versuche ein Lächeln, doch das heiß werden meiner Wangen, wirft mich aus der Bahn.

"Sorry, das war peinlich, ähm ..."
Ich ziehe meine Kopfhörer aus den Ohren und stopfe sie in die Manteltasche.
Normalerweise beherrsche ich diese Bewegung im Schlaf und sie dauert weniger als eine Sekunde.
Doch heute - aus unerklärlichen Gründen - fällt mir ein Kopfhörer immer wieder aus der Tasche, das weiße Kabel verwickelt sich mit meinen Fingern und ich stehe da wie eine Idiotin.

Verlegen lache ich und befreie meine Hand.
Jace steht auf.
Plötzlich muss ich meine gewohnte Position einnehmen und meinen Kopf nach hinten lehnen.
Meine Augen weiten sich, bei dem Blick auf sein linkes Auge, um das sich tatsächlich ein dunkelblauer, fast schwarzer Schatten zieht.

Jace scheint meine unangenehme Nackenhaltung zu bemerken und tritt einen Schritt zurück.
"Hast du etwas auf mich gewartet?", frage ich neckend und versuche sein linkes Auge nicht anzustarren.
Gott, was sage ich denn da? Am liebsten würde ich auf der Stelle kehrt machen und in den nächstbesten Zug springen.

Jace lacht ein raues Lachen.
"Wenn du so willst; ja - oder warte. Wurde dein Auto geklaut? Dann habe ich damit natürlich nichts zu tun und das hier ist ein Zufall . Ein sehr schöner Zufall", fügt er hinzu.
Das Lächeln, welches sich jetzt auf meinem Gesicht ausbreitet, ist echt und um einiges entspannter.

Zwischen uns ist also alles wie zuvor. Er ist nicht sauer, weil ich auf ihn zugekommen bin.
"Es ist schlimmer; meinem Auto geht es nämlich gar nicht gut. Es wurde zu Schrott gefahren", sage ich trocken.
Jaces Gesicht verzerrt sich. Besorgt streckt er eine Hand nach mir aus.

"Bist du in Ordnung?"
Ich kann nicht sofort antworten. All meine Sinne fokussieren sich auf seine Hand und die Stelle, die sie an meinem Oberarm berührt.
Ich blicke auf seine langen Finger herunter, die sich wie ein kostbarer Armreif um mich schlingen.
"Mein Bruder ist gefahren", bringe ich hervor und reiße meinen Blick los, nur um in seinen grünen Augen zu ertrinken.

Verdammt. Kann ich denn keines seiner Körperteile ansehen, ohne abzudriften?
Warum kann es nicht so sein wie am vorletzten Dienstag?
"Und wie geht es deinem Bruder?"
Da fällt mir ein, dass ich ihn am besagten Dienstag kaum eines Blickes gewürdigt habe.

"Meinem Bruder?"
Ich versuche mich auf seinen Mund zu konzentrieren, die Worte, die daraus kommen, und greife unsere Unterhaltung wieder auf.
"Der ist im Krankenhaus. Ist halb so wild."

Wenn ich über eine Sache nicht reden will, dann ist es über meinen Bruder, versuche ich ihm stumm mitzuteilen.
Jace kratzt sich am Hinterkopf und schiebt seine Mütze dabei über seine Stirn.
Ich sehe seine Augenbrauen unter dem abgenutzten Stoff verschwinden.

"Und was machst du hier?", frage ich und wechsle das Thema.
Er sieht mich amüsiert an. Sein Mundwinkel zuckt.
"Rumsitzen und auf hübsche Mädchen warten."
Ich laufe knallrot an - wenn das überhaupt möglich ist und sich meine Wangen in der kurzen Zwischenzeit abgekühlt haben sollten.

"Und ... heute schon welche vorbeigekommen?"
Er zieht seine Schultern bis zu den Ohren hoch und schiebt seine Finger in die Hosentaschen. Ich kann immer noch die helle Haut seiner Handrücken sehen.
"Ich weiß nicht ..."

Beinahe will ich ihm einen empörten Blick zu werfen, doch als meine Augen wieder zu seinem Gesicht hochwandern, erkenne ich das freche Grinsen darauf.
Kaum merklich nicke ich und deute dann auf sein Auge.

"Was ist da passiert?"
Jace scheint einen Moment überlegen zu müssen, was genau ich in seinem Gesicht meine.
Er zieht seine linke Hand aus der Hosentasche und legt seinen Zeige- und Mittelfinger an die Verletzung.

"Nichts wildes", gibt er meinen Wortlaut wieder.
Ich verdrehe die Augen und lege den Kopf leicht zu Seite.
"Sieht aber wild aus", gebe ich spitz zurück.
Er stößt amüsiert Luft durch die Nase.

"Kleine Meinungsverschiedenheit", sagt er dann.
"Klärst du die immer so?"
"Fragst du immer so viel?"
"Vielleicht."

Aber nur, wenn ich es wissen will. Weil es mich interessiert.
Aber das spreche ich natürlich nicht laut aus.

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Song: Heaven - Troye Sivan

Hey folks,

Herzlichen Glückwunsch: Wieder einen weiteren Tag bei diesem Scheißwetter überstanden! 

Ich hoffe, dass Kapitel hat euch gefallen :)

Am Anfang schrieb ich ja, etwas von einem "sturen Blick", einem demonstrativen Wegschauen. Und mal ehrlich ... leider machen wir das doch alle, wenn es zu Obdachlosen kommt, oder? Also ich muss so ehrlich sein und gestehen, dass ich es früher immer getan habe.

Jetzt nur noch ab und an, bis ich mich erinnere; Hey, ein Lächeln kann wenigstens sein, wenn sie/er gerade rüberguckt. ... Natürlich muss man auch vorsichtig sein.

Na ja ... 

Ich tauch dann mal wieder ab (fragt mich nicht, wo dieser Formulierung gerade hergekommen ist xD)

Bis Morgen <3

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt