12.

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Die ganze restliche Woche habe ich wie unter Betäubung verlebt.
Ich habe in der Mittagspause zwischen meinen Freunden gesessen und mich furchtbar allein gefühlt.
Ich habe mich kaum an einem Gespräch beteilige, bin abwesend im Unterricht gewesen und aß im totenstillen Haus einsam am Küchentisch zu Abend.

Die weiche Bürste gleitet durch meine Locken.
Ich versuche sie in perfekten Wellen über meine Schultern fallen zu lassen.
Mom würde das jetzt viel besser hinkriegen als ich. Und sie müsste dazu nicht mal vor einem Spiegel sitzen.

Gerade an den einsamen Abenden unten in der Küche, wenn der Rest des Hauses dunkel war und nur die kleinen Lampen über der Anrichte mir Trost und Licht spendeten, vermisste ich sie am meisten.
Dachte ich zumindest, als ich mein Essen herunterwürgte.
Doch jetzt, wo sie unten im Wohnzimmer ist, jetzt wo ich weiß, dass sie hier ist, vermisse ich sie fast noch mehr.

Ich vermisse meine Mutter.
Seit der Kleideranprobe habe ich sie nicht gesehen und auch nicht mit ihr gesprochen.
Und gleich werde ich mich neben sie an die Tür stellen und unsere Gäste begrüßen.
Ich schaudere.

Dad ist in den letzten Tagen nicht ansprechbar gewesen, aber das bin ich gewöhnt.
Gerade vor großen und wichtigen Veranstaltungen wie der Benefizgala hat er weitaus andere Dinge zu tun, als ein paar Worte mit seiner Tochter zu wechseln.
Ich schaue mir in die braunen Augen, lasse die nackten Schultern kreisen.

Ich muss in den Kampf ziehen.
Jede Gala bezeichne ich als Kampf. Diese Bezeichnung hilft mir dabei den Kopf oben zu halten.
Wenn ich mich wie eine Kriegerin im Kostüm zwischen all diesen Lackaffen fühle, fällt es mir leichter diese Rolle zu spielen. Die Rolle der Vorzeige-Tochter, die eigentlich eine unerschrockenen Kriegerin ist.

Als ich aufstehe, fällt der hellblaue Stoff seidig um meine Beine. Er schleift über die Treppenstufen, während ich mich bemühe ein freundliches Gesicht aufzusetzen.
Mein Platz zur Linken meiner Mutter wird von ihrer eiskalten Aura freigehalten.
Dad und ich flankieren sie und ihr weinrotes Kleid, das ihrer Haarfarbe schmeichelt.

Nachdem ich meinen Platz eingenommen habe, senke ich die Augen.
Zwischen meiner Mutter und meinem Vater herrscht Abstand, eine Kluft. Dad braucht immer viel Freiraum, um seine Gäste ausgiebig begrüßen zu können, bevor sie an uns weiter gereicht werden.

Mirella eilt zur Tür, hinaus in die Einfahrt. Der Duft von frischem Brot folgt ihr.
Ich streiche über meinen glitzernden Rock. Jetzt geht es gleich los.
Mein Vater lehnt sich hinter meine Mutter und macht ein zischendes Geräusch in meine Richtung.
"Wenn jemand nach Ben fragt, weißt du, was du zu sagen hast?"

Seine blauen Augen wirken durch seine zusammengezogenen Brauen verkleinert.
Die durch eine Frage getarnte Aussage wird mit einem Nicken meinerseits beantwortet.
"Sir, die ersten Gäste sind eingetroffen", kündigt Mirella an und eilt zurück in die Küche.
Ich wünschte, sie würde mir einen Blick zu werfen, ein kleines Lächeln, aber sie denkt jetzt nur an das Fingerfood.

Moms seidene Stola streift meinen Arm.
Ich werfe ihr einen verstohlenen Blick zu, bemerke wie dünn ihre Schultern geworden sind.
Sie lächelt mir kurz zu. Überrascht erwidere ich es.
Dann lasse ich den Schwall der eintreffenden Gäste über mich ergehen und schüttele brav jede Hand, die mir vor die Brust gehalten wird.

Immer mehr Menschen füllen den Wohnbereich unseres Hauses, Dads Stimme wird immer lauter und so auch die Jazzmusik.
Ich betrachte gerade die feinen Falten in meinem Korsett, als wieder eine Hand in meinem Blickfeld auftaucht.

Sie ist groß, gepflegt, polierte Fingernägel, breite Adern treten unter der Haut hervor.
Ich blicke auf in die Augen eines jüngeren Mannes mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht.
"Ophelia, ich bin sogar noch in der Lage, dich wiederzuerkennen. Allerdings hast du in meiner Erinnerung eine Zahnlücke."

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt