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Wir reden. Über viele Dinge. Einige umgehen wir, wie eine meilentiefe Schlucht, die manchmal auch zwischen uns zu sein scheint.
Ich weiß jetzt, dass Jace in einem kleinen Bungalow außerhalb Oregons aufgewachsen ist.
Er hat keinen Collage-Abschluss.

Meine Augen gleiten über jeden Millimeter seiner Haut.
Über seinem geschwungenen Lippenherz zeichnen sich bereits die ersten Bartstoppeln ab.
"Ich habe Wein da, wenn du welchen willst", sagt Jace mit leiser Stimme und legt seinen Arm hinter meinem Kopf auf der Lehne der Couch ab.

Ich beiße in meine Unterlippe.
Wein. Es ist bereits Nachmittag. Ich würde nicht nach Hause fahren können, wenn ich ...
"Warum nicht", lächle ich.
"Ist aber kein besonders edler, also nicht das, was du sonst gewöhnt bist."

Zwinkernd erhebt er sich.
Er ist schon aus dem Raum, da rufe ich ihm nach: "Als ob mir das was ausmachen würde!"
Das wäre die zweite Nacht in kürzester Zeit, die ich nicht Zuhause verbringen würde. Selbst mit einem Glas intus, werde ich mich nicht hinters Steuer setzen. Meine Mutter und Ben haben mich in dieser Hinsicht geprägt.

Es ist eine Frage der Zeit, bis Dad meine Abwesenheit bemerken wird. Und wenn er es nicht tut, dann Ben.
Ich könnte natürlich auch später nach Hause laufen. Aber das würde mehr Fragen über mein Auto aufwerfen, als mir die Sache wert ist.
Jace kommt zurück, zwei gut gefüllte Weingläser in den Händen.
Rotwein.

Dankend nehme ich ein Glas entgegen und lehne mich an seine Schulter, als er wieder neben mir Platz genommen hat.
"Wo bin ich stehen geblieben?"
Ich lege die Stirn in Falten. Seine Lippen müssen mich abgelenkt haben.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, worüber er geredet hat.

"Ah. Meine Schlafgewohnheiten."
Seine Schultern beben, als er lautlos auflacht.
Ich nippe am Wein.
Er schmeckt nach Pappe und ist verwässert, aber ich sage nichts.

"Das Ding mit den Obdachlosenunterkünften ist, dass sie absolut nicht menschenwürdig sind. Verstehst du? Dort wird man eingepfercht wie Vieh!"
Die Couch wackelt, als er wird mit den Armen gestikuliert. 
"Diese Unterkünfte werden von den meisten Menschen, die dauerhaft auf der Straße leben, gemieden. Hygiene ist ein fremd Wort, gibt es dort nicht! Nur die ganz üblen Junkies fallen dort regelmäßig ein. Ein weiterer Grund, warum man besser einen Bogen um diese Einrichtungen macht."
Bei dem Wort Junkie zucken wir beide auf merkwürdige Art und Weise zusammen.

"Aber gibt es dort keine Sozialarbeiter, die gegen diese Umstände angehen?", frage ich und ziehe mein rechtes Bein an.
Jace lacht erneut, dieses Mal hörbar.
"Meinst du die Mitte zwanzigjährigen, die völlig überfordert mit der Situation sind und beim kleinsten Übergriff hinschmeißen oder die alten, verbissenen Damen und Herren, die glauben, dass uns sowieso nicht mehr geholfen werden kann und deswegen über alles hinweg sehen?"

Die Art wie er 'uns' sagt, lässt mich schlucken. Für mich gehört er nicht mehr zu diesem 'uns'.
Ich lasse die blutrote Flüssigkeit in meinem Glas kreisen und überlege.
"Wenn man doch auch nur einfach so hinschmeißen könnte, wenn sie einem einen kleinen Raum zuweisen mit vier Stockbetten und einem winzigen Fenster. Jedes Treppenhaus hat mehr Luft zu atmen und weniger Gefahren."

Ich blicke in mit großen Augen an.
"T-Treppenhaus?"
Er nickt und fährt sich über den Mund.
"Glaubst du man kann im Winter ständig draußen schlafen? Ich habe immer bei den großen Wohnblöcken geklingelt, so lange bis einer aufmacht hat. Und dann habe ich mich in den obersten Stock geschlichen. Da habe ich jedenfalls mehr Schlaf bekommen, als unter jeder Brücke."

Ich stelle mein Weinglas auf den Couchtisch.
"Aber ist das nicht Einbruch?"
"Definiere Einbruch. Man hat mir ja schließlich immer die Tür geöffnet. Und wenn man für ein paar Stunden die Augen zu machen kann und vor dem Morgengrauen verschwindet, bekommt man wenig Probleme."

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt