39.

945 80 71
                                    

Ich lege Jace sanft eine Hand an den Kopf, sage ihm ohne Worte, dass es okay ist, dass er sich dieses Mal nicht zu entschuldigen braucht.
Dennoch bin ich heilfroh, dass mein Vater nicht Zuhause ist.
Diese Situation hätte ich ihm nicht erklären können und er hätte niemals zugelassen, dass ich Jace helfe.

Eher hätte er die Polizei gerufen und die negative Aufmerksamkeit der Nachbarschaft auf sich genommen.
Ich bete, dass Ben seine Kopfhörer nicht abgesetzt hat und uns jetzt nicht durch die Eingangshalle stolpern hört.

Versuchen Jace zu sagen, dass er leiser sein soll, hat keinen Sinn.
Sein Kopf ist verschleiert, alles, was jetzt für ihn zählt, ist es bis zu der kleinen weißen Tür zu schaffen, auf die ich ihn zuführe.

Gleich an unsere Eingangshalle anschließend, befindet sich ein kleines Gäste-WC, das er auch ohne verbale Verständigung und trotz seines Zustandes als unser Ziel ausgemacht hat.
"Gleich geschafft", flüstere ich - mehr zu mir, als zu ihm.
Denn sein Gewicht macht mir mittlerweile mehr als zu schaffen.

Vergessen sind die Geschichtsbücher und mein roter Stift, den ich offen auf meinem Bett zurückgelassen habe.
Ich wünschte nur, ich hätte all das aus einem erfreulicheren Grund vergessen können.
Mit der linken Hand versuche ich die Tür zu öffnen, während meine Rechte sich immer noch an Jace festklammert, ihn hält.

Er unterstützt mich, indem er sich an die Wand anlehnt.
Ich sehe, wie er verlegen seine blutverschmierte Hand davon abhält, an die Tapete zu kommen.
Ich schalte das Licht an, führe Jace zum Klo, auf das er sich mit einem dumpfen Aufprall fallen lässt.
Erschrocken beiße ich die Zähen zusammen, reche damit, dass er das Gleichgewicht verliert und hinunterrutscht.

Doch er hält sich.
Die Beine breit, die Fäuste geballt. Seine Zähne graben sich in seine blutende Unterlippe.
Sein eines Auge sieht schlimmer aus, als beim letzten Mal.
Es ist bereits fast zugeschwollen.

Ich versuche tief durchzuatmen, kann meine Lungen aber kaum füllen.
"Du brauchst was zum Kühlen. Und Schmerzmittel. Und -"
"Es sieht schlimmer aus, als es ist", stöhnt Jace. "Ich muss die offenen Stellen nur ausspülen und ich habe kein Desinfektionsspray mehr gehabt, deswegen -"

Ein Husten unterbricht ihn.
Ich kann seinem Oberkörper beim schmerzvollen Zusammenziehen zuschauen.
"Ich habe einfach keine Lust auf entzündete Wunden", sagt er dann und schaut aus einem Auge zu mir auf.

Ich eile zum Verbandskasten an der Tür.
Zum Glück hat Mom darauf bestanden, in jedem Bad einen zu haben.
Mit zitternden Finger suche ich nach den Schmerztabletten.
"Hier."

Jaces Augen haften an den drei Pillen, die ich ihm reiche.
Ein schwaches Lächeln verzerrt seinen Mund. Doch nach einer Weile nimmt er sie entgegen.
"Warte, ich hole ein Glas Wasser!"
"Geht schon so."

Seine Stimme klingt rau und heiser.
Ich schüttele nur den Kopf und eile im Dunkeln in die Küche.
So leise wie möglich öffne ich den Schrank mit den Gläsern.
Aber falls Ben seine Kopfhörer abgesetzt haben sollte, hätte er mich und Jace längst reden hören.

Zurück im Bad schließe ich leise die Tür hinter mir.
"Wir müssen versuchen, so leise wie möglich zu sein. Es ist nur mein Bruder Zuhause, aber", ich reiche ihm das volle Wasserglas, "wenn er uns hört und meinem Dad davon erzählt, sind wir dran."
Jaces Augenbrauen ziehen sich zusammen.

Er leert den Inhalt des Glases in einem Zug. Einige Wasserperlen laufen an seinem Kinn entlang, topfen auf sein schwarzes Shirt.
Ich nehme ihm das Gefäß ab, fülle es erneut und reicht es ihm mit einem Eisbeutel, den ich ebenfalls aus der Küche mitgebracht habe.

"Kannst du ..."
Er deutet auf seine demolierte Hand.
"Klar", bringe ich atemlos hervor und nähere mich mit zitternden Händen.
Plötzlich hat uns die Stille des Hauses eingeholt.

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt