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Wie betäubt schaue ich auf und beobachte meine Mutter dabei, wie sie sich auf ihren üblichen Barhocker hochzieht.
"Ich ... ich muss nochmal los. Wartet nicht auf mich", sage ich und habe schon fast die Eingangshalle durchquert.

Mein Herz pocht gegen meine Rippen, gleichzeitig schnürt sich mein Hals noch weiter zu.
Die Stimme meines Vaters dringt kaum zu mir durch.
"Ophelia! Bleib stehen! Du wirst jetzt nicht einfach gehen. Deine Mutter ist gerade erst gekommen."
Ich höre seine Schritte hinter mir immer näher kommen, aber ich drehe mich nicht um.

Mein Handy in der rechten Hand scheint zehn Kilo zu wiegen und ein Loch in meine Haut zu brennen.
"Ophelia!"
Aus einem dummen Reflex schnellt mein Kopf zurück und ich sehe Dad ein Wasserglas in der Hand halten, das bei seinen Bewegungen überschwappt.

Seine Muskeln spannen sich an, als er sieht, dass ich bereits meine Schlüssel von der Anrichte gegriffen habe und einen Fuß in meine weißen Sneaker zwänge.
Ich halte seinem Blick stand, begegne ihm nicht mehr mit Unterwerfung, sondern hebe das Kinn.
"Es ist dringend, Dad. Ich muss."

Die Tür ist offen und die warme Juliluft schmeichelt um meine Knöchel.
Ich höre noch die aufgebrachten Worte: "Es wird schon nicht so wichtig sein, wie du es jetzt erachtest. Du hast hier zu bleiben, das haben wir so abgesprochen. Ich brauche dich doch. Ophelia!"
Da ist die Haustür zugefallen.

Sie werden schon in der Lage sein, ein Gespräch ohne mich zu führen.
Mein ganzer Körper zittert und ich verliere wertvolle Sekunden, als ich den Schlüssel nicht gleich ins Zündschloss bekomme.
Ich fahre los, ohne mich anzuschnallen.
Egal. Alles ist egal.

Hauptsache, ich finde Jace nicht wie beim letzten Mal. Am Boden und bewusstlos.
Ich überfahre eine gelbe Ampel - das mache ich sonst nie!
In meinem Kopf nur dieser eine Gedanke: Jede Sekunde zählt.
Ich atme nicht tief genug durch, raube mir selbst den Sauerstoff.

Vor meinem inneren Auge liegt Jace am Boden, egal wie sehr ich mir auch einrede, dass der Notfall nicht ganz so dramatisch ist.
Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Dass echt Bild zu kennen und damit arbeiten zu können oder sich verschiedene, schreckliche Varianten auszumalen, weil die Fantasie auf einer nicht mal fünfzehnminütigen Autofahrt durchgeht.

Ich erreiche die Stadtmitte und parke mit zitternden Händen vor dem kleinen Wohnhaus ein.
Warum konnte Jace auch nicht spezifischer sein. Wie zum Beispiel: Mir ist schwindelig oder ich glaube, ich habe wieder eine Überdosis genommen.
Da ist noch so viel, was wir noch nicht besprochen haben.

Ich greife nur mein Handy und eile die drei Treppenstufen empor und drehe den Zweitschlüssel, den Tante Jennifer mir nachgeschickt hat, im Schloss um.
Dabei versuche ich mir Jace nicht auf dem Badezimmerboden vorzustellen.
Das Treppenhaus begrüßt mich mit seiner üblichen Frische und ich hechte die Treppe hoch.

Das Holzgeländer knarrt, als ich mich etwas zu ruckartig daran hochziehe.
Beinahe falle ich lang ausgestreckt in den oberen Flur, als Jace mir aus der offenen Wohnungstür entgegengrinst.
Ich komme zu einem abrupten Halt.

"Was zum -"
Ich ringe nach Luft und entlasse die Spannung aus meinen Schultern.
Jace trägt ein schwarzes T-Shirt und eine kurze Shorts. Seine Locken werden von einem Bandana aus seinem Gesicht gehalten.

Er grinst immer noch, als ich die letzte Distanz zwischen uns überwinde und auf seine Brust einschlage.
Alles, was er tut, ist mich am Ellenboden in die Wohnung zu ziehen.
"Bevor du mich anschreist: Ich weiß, deine Mutter ist heute nach Hause gekommen und ich dachte mir, du könnest eine kleine Auszeit gebrauchen."

Er legt den Kopf zur Seite und seine grünen Augen liegen auf mir, lassen mich unter seinem intensiven Blick weich werden.
"Und außerdem habe ich dieses Essen schon viel länger geplant, als deine Mutter ihre Ankunft. Und!"
Sein Zeigefinger schiebt sich unter meine Nase.
"Wenn ich nicht geschrieben hätte, dass es sich um einen Notfall handelt, wären die Nudeln kalt geworden."

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt