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Die Nachtluft streicht seltsam kühl um meine Arme. Ich widerstehe dem Drang, die Hände unter meine Achseln zu schieben und einen Schritt zuzulegen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist Sams Jacke um meine Schultern.
"Wir müssen hier lang", weist mich dieser im selben Moment zurecht. Ich habe die falsche Richtung eingeschlagen.

Verlegen laufe ich zu ihm zurück und senke den Blick.
Sam lächelt mich nur an und passt sein Tempo an meines an. Sein roter Wagen kommt näher und mit dem Wissen, dass diese Abend bald ein Ende findet, fällt mir auch das Atmen leichter.
Mein Seufzen, als ich neben der Beifahrertür zum Stehen komme, scheint Sam allerdings als ein trauriges zu interpretieren.

"Wir können das hier nächsten Samstag gerne wiederholen."
Unsicherheit schwingt in seiner Stimme.
"Mal sehen, ich glaube, in der nächsten Zeit sieht es bei mir eher schlecht aus."
Es ist mir egal, wie sehr sich das nach 'billiger Ausrede' anhört. Ich will einfach nur in mein Bett, mich einrollen und eine Serie gucken. Vergessen.

Sam ringt sich ein Grinsen ab und schüttelt sein Haar. Die blonden Strähnen nehmen in der Parkplatzbeleuchtung einen kühlen Silberton an.
Ein tiefgelegter Wagen beschleunigt hinter uns und rast auf die Ausfahrt zu. Aus dem Inneren dringen die lauten, unverkennbaren Bässe eines Green Day Songs.
Als ein Gitarrensolo einsetzt, ist der Wagen schon fast nicht mehr zusehen. Trotzdem stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht.

Jace liebt Green Day.
Er ist überall. Vielleicht sehe ich auch einfach zu genau hin.
Ich greife nach dem Türgriff und lasse mich in den Ledersitz fallen.
"Wollen wir noch -"
"Ich möchte wirklich nach Hause, Sam", lächle ich müde.

"Natürlich."
Und dann schweigen wir, hören Musik, die man nicht im Geringsten mit Green Day vergleichen kann, während ich aus dem Fenster starre.
Helle Pfeile schießen am Himmel entlang, ein Kontrast zum vorherrschenden Schwarz des Weltalls.

Ich lehne meine Schläfe an die kühle Scheibe und konzentriere mich auf die Vibrationen, die durch meinen Schädel gesendet werden.
Plötzlich tritt Sam die Bremsen durch und stößt einen lauten Fluch aus. Ich werde nach vorne geschleudert und unsanft vom Sicherheitsgurt zurückgehalten.

Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Wir stehen auf einer unbefahrenen Straße, Sams Augen so weit aufgerissen, dass sie beinahe aus seinem Kopf fallen könnten.
Er umklammert das Lenkrad und atmet schwer, starrt auf einen unbestimmten Punkt hinter der Scheibe.

"Was ist denn-", setze ich leise an, doch sein Schreiben überschallt mich.
"Sag mal, hast du sie noch alle! Ich hätte dich umfahren können! Hast du keine Augen im Kopf?!"
Mitten in seinem Wutanfall öffnet er seine Tür und steckt den Kopf hinaus.
Meine Lippen spalten sich. So habe ich ihn noch nie erlebt.

Ich drehe mich weg von Sam, zu dem Punkt, zu der schwarzen Gestalt, auf die er starrt.
Ein dunkler Schatten zeichnet sich vor der Motorhaube ab. Eine Hand des Fremden ist auf sie gestützt.
Er scheint in völligem Schock erstarrt zu sein.
Ich blicke reglos nach draußen, mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Wir hätten beinahe einen Unfall gehabt!

Da senkt der schwarze Schatten seinen Kopf und das Licht der Scheinwerfer flutet sein Gesicht.
Hohe Wangenknochen werden sichtbar, schmale, geschwungene Lippen, die genauso offenstehen, wie meine.
Ein Heiligenschein aus Locken formt sich um ihn.

Das kann nicht sein.
Ich taste nach meinem Hals und versuche zu schlucken.
Überall bilde ich mir ein, Jace zu begegnen und wenn es in der Melodie eines Songs ist. Im Restaurant dachte ich, er würde mich von der Tür aus beobachten und jetzt sehe ich sein Gesicht in dem eines Fremden.

Ich presse die Augen zusammen.
Zu diesem Zeitpunkt weiß ich nicht, wo sich Sam befindet. Ob er noch neben mir sitzt oder in Rage aus dem Wangen gesprungen ist.
Meine Hand tastet nach meiner verschwitzten Haut, unter der sich meine Speiseröhre befindet.
Mein Herzschlag hämmert gegen meine Finger, aufgeregt und unstet.

Ich blinzle mehrmals. Doch Jaces Gesicht bleibt Jaces Gesicht.
Er blickt mich durch Sams Windschutzscheibe an, nimmt seine Augen nicht eine Sekunde von mir.
Entsetzen ist alles, was seine Mimik projiziert.
Ich versuche mich zu bewegen, eine andere Emotion außer pure Verzweiflung auszudrücken. Doch es klappt nicht.

Ich kann mich nicht bewegen.
"Jetzt beweg dich, Mann!"
Sams Stimme zerreißt beinahe meine Trommelfelle.
Ich reiße den Blick von Jace los.

Sam sitzt immer noch neben mir, seine Fingerknöchel treten weiß am Lenkrad hervor.
Wie lange haben wir uns so angesehen?
Minuten oder Sekunden? Ich spüre seinen unerbittlichen Blick immer noch auf mir.
Verwirrt wende ich mich wieder der Gestalt vor dem Fenster zu. Er hat sich keinen Millimeter bewegt.

Unsere Augen treffen aufeinander, ein Blitz durchzuckt mich.
Mir wird kalt, eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper auf. Ich krümme meine Zehen in den unbequemen Schuhen.
Wie muss ich für ihn aussehen?

Wie eine Betrügerin.
Wie eine Betrügerin, die ihn zurückgelassen hat und jetzt mit roten Lippen und schwarzen Augen in dem Sportauto eines reichen Schnösels sitzt - jemanden ihres Gleichen.
Das passiert gerade nicht wirklich, versuche ich mir einzureden.

Doch wie um meine Gedanken, meinen Zuspruch zu entkräften, haut Jace einmal mit der flachen Hand auf die Motorhaube und verschwindet in die Nacht.
Er dreht sich einfach um und geht. Nach ein paar Schritten tritt er aus dem Kegel der Scheinwerfer und wird unsichtbar für uns.

"So ein Arschloch", brummt Sam und reibt sich die Wangen.
"Bist du okay?"
Der Motor läuft immer noch. Ich kann das Blicken von einem Licht hören.
"Nein", antworte ich verzögert.

Ich starre immer noch auf den Punkt in der Nacht, an dem Jace eben noch gestanden hat.
Er ist weg.
Sein Blick hat mich verurteilt. Seine Augen haben mich meiner Kleider, meiner Tarnung entledigt und als das dargestellt, was ich bin. Eine Betrügerin.

"Nun ... das nenne ich mal eine Art, den Abend zu beenden", seufzt meine Begleitung und löst die Handbremse.
Die Räder unter uns kommen ins Rollen und kurz darauf lässt er den Motor aufheulen und tritt aufs Gas.

"Warte!"
Meine Stimme klingt seltsam fremd in meinen Ohren.
"Halt an."
"Geht es dir nicht gut, Ophelia? Was ist -"
"Bitte, Sam, halt einfach hier an!"

Ich flehe ihn mit meinen Augen an, als wir an Geschwindigkeit verlieren.
Ich warte nicht auf das Rucken, das mir versichert, dass wir zum Stehen gekommen sind.
Ich schnalle mich ab und reiße die Tür auf.
Unsicher komme ich auf dem Kopfsteinpflaster auf, blicke mich orientierungslos um.

Wo ist er hin?
Um mich herum ist alles schwarz. Die gelben Kugeln der Straßenlaternen treffen auf keinen Körper.
Jace wird von der Dunkelheit gefangen gehalten, vor mir versteckt.
Ich recke den Hals und fülle meine Lungen mit Luft.

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Song: California - Lana Del Rey

Moin :)

Life is so stressful isn't it?

Glaubt ihr, Ophelia wird Jace noch erwischen, oder glaubt ihr, er ist ihr entwischt?

Ich liebe es, solche Szenen zu schreiben :)
In meinem Kopf läuft dann immer so ein richtiger Film - ich hoffe, in eurem auch! xD

An die, die Auto fahren: Ist euch schon mal jemand vor die Karre gelaufen?

Danke für 24k!!!!!!!!!!! <3
u are so supportive, that means so, so much! Jeder Kommentar, jeder Vote ist so, so hilfreich. Ohne die würden nämlich keine neuen Leser auf dieses girl und ihre Geschichten hier aufmerksam werden.

I have to go now, bis morgen ma loves!

All my stressful Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt