20.

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Ich höre AJs Stimme immer noch in meinen Ohren nachhallen, wie er mir fragend hinterherruft; wohin ich denn so eilig rennen würde.
Zum Bahnhof.
Das ist die Antwort, die ich ihm nicht gegeben habe, weil ich einfach verwand.

Nur noch zwei Haltestellen, dann werde ich herausfinden, ob Jace sein Versprechen hält.
Ich bin nervös. Aber eigentlich ist es mir auch völlig egal, ob ein junger Mann in schwarzer Jacke und mit den Händen in den Taschen gleich auf meinem Bahnsteig steht und nach mir Ausschau hält.
Seine grünen Augen brauchen nicht aufzuleuchten, wenn er mich aus dem Zug steigen sieht.

Vielleicht bleibe ich ja auch einfach sitzen und fahre an ihm vorbei.
Ich lasse meinen Kopf mit Schwung gegen die Lehne hinter mir fallen und ernte einen abschätzenden Blick einer Frau, die mir schräg gegenüber sitzt.
In mir flammt der Gedanke auf, ihr einfach die Zunge herauszustrecken.

Ich weiß auch nicht, woher diese rebellische Art plötzlich kommt.
Aber es ist mir egal, es macht mir Spaß, mir wenigstens im Kopf auszumalen, was Ophelia in einem anderen Leben tun würde.
Und weil ich ein kleines bisschen wie diese Ophelia sein will, seufze ich jetzt laut.

Denn ich gestehe mir ein, dass mir nichts so richtig egal ist.
Es ist mir nicht egal, mich mit meinem Bruder zu streiten und es ist mir auch nicht egal, dass mein Vater seit drei Tagen kein persönliches Wort mit mir gewechselt hat.
Alles, was ich von ihm gehört habe, wurde auf einen Notizzettel gekritzelt und betraf mein Auto, das einem Schrotthaufen gleicht.

Es ist mir auch nicht egal, was andere Leute von mir denken und deswegen schaue ich jetzt aus dem Fenster anstatt in die Richtung der Frau und ihres aggressiv tippenden Fingers.
Und es ist mir auch nicht egal, ob Jace gleich am Bahnsteig steht oder nicht.
Ich möchte, dass er dort steht und auf mich wartet, so wie wir es verabredet haben.

Ich schaue auf meine Uhr.
14:25 Uhr.
Ich werde fast pünktlich ankommen.
Ich erhebe mich von meinem Platz und kontrolliere zweimal, ob ich auch nichts vergessen habe. Dann stelle ich mich an die Tür und warte auf den Bahnhof von Fitchburg.

Um diese Zeit ist es auf den Bahnsteigen fast leer. Kaum jemand wartet auf einen Zug.
Und so rauschen auch nur fünf oder sechs Gesichter an mir vorbei, als wir in den Bahnhof einfahren.
Ich atme tief durch, als sich die Türen unter einem Piepen, Zischen und Quietschen öffnen.

Meine ersten Schritte sind zögerlich. Dann bleibe ich stehen und sehe mich um.
Kein Jace. Weit und breit.
Enttäuschung breitet sich in mir aus und ich scanne die Umgebung ein zweites Mal ab.
Immer noch nichts.

Das darf doch nicht sein!
Hat er mir wirklich nur Hoffnungen gemacht, um dann einen Rückzieher zu machen?
Vor dem Getränkeautomaten liegt keine graue Decke mehr und ich sehe nirgends einen herrenlosen Rucksack herumstehen.

Er hat mich versetzt.
Schlimmer als dieser Fakt ist, dass es mich trifft und dass ich mich tatsächlich darauf gefreut habe, mit einem Obdachlosen meinen Heimweg anzutreten.
Ich schüttele den Kopf, starre aber immer noch zum Getränkeautomaten, an dem sich ein Mann gerade eine Flache Wasser kauft.

"Da bin ich", erklingt eine Stimme hinter mir.
Ich wirbele herum und presse mir erschrocken die Hand auf die Brust.
"Meine Güte! Du hast mich erschrocken!"
Ich ringe nach Luft und lache auf, ein eher atemloses Geräusch.

Auch Jace lacht kurz.
"Das könnte doch unser Ding werden."
"Unser Ding?", frage ich und umklammere den Taschengurt auf meiner Schulter.
"Na, ich erschrecke dich jedes Mal, wenn ich dich sehe."

Er senkt den Kopf um ein paar Zentimeter und schaut mich durch seine dichten Wimpern hindurch an.
Mir wird warm und ich beiße auf meiner Wange herum.
"Dann sollte ich mich wohl besser vor dir verstecken, denn ich glaube, das überlebe ich nicht lange."

Jaces Gesichtsausdruck verrutscht ein wenig, dann fasst er sich wieder und schlendert ein paar Schritte Richtung Ausgang.
"Wollen wir?", fragt er über seine Schulter.
Beinahe mühsam löse ich meine Füße vom Boden und folge ihm.

Als ich zu dem jungen Mann aufhole, fällt mir auf, dass er seinen Rucksack nicht bei sich hat.
Fast setze ich an, um ihn danach zu fragen, da öffnet er schon wieder den Mund und sagt: "Also, wir wollten uns kennenlernen. Wie machen wir das am besten? Ich sage dir gleich; von 'Meine Lieblingsfarbe ist' und 'Wenn ich ein Song wäre, dann wäre ich' halte ich nicht viel."

Ich werfe ihm einen empören Blick zu, während wir durch die Unterführung laufen.
"Hey! Was ist denn so schlimm daran, zu sagen, welcher Song man wäre?"
Er schüttelt lächelnd den Kopf.
"Gegen Musik habe ich nichts einzuwenden, es geht um's Prinzip, verstehst du?"

Ich nicke.
Ich glaube nicht.
"Was ist denn dein Lieblingssong?", frage ich.
Erneut lacht Jace kurz auf.

"Kann man überhaupt einen haben?"
Unsere Augen treffen sich und ich bin fasziniert von den verschiedenen Grüntönen, die sich in seinen tummeln.
Jetzt, wo die Sonne hinter weißen Wolken verschwunden ist, erinnern sie mich an Rosenblätter oder nassen Rasen nach einem Sommerregen.

"Ich meine, nur einen Lieblingssong - dafür gibt es doch viel zu viele Lieder", fährt er fort, "und außerdem ändert sich der persönliche Geschmack ständig und es gibt immer etwas Neues, etwas Besseres."
Ich grinse in mich hinein. Irgendwie mag ich seine Sicht auf die Dinge.

Er hat irgendwo recht.
Als Kind habe ich so ein albernes Lied aus dem Kindergarten hoch und runter gesungen und in der Highschool gab es nur One Direction für mich.
Meine Liebe für diese Band ging sogar so weit, dass Ben mir meine Anlange kaputt gemacht hat, weil ich das Album Midnight Memories ohne Unterlass gehört habe.

Und jetzt habe ich einen anderen Lieblingssong im Vergleich zu der Zeit, als ich vor drei Jahren an die Uni gekommen bin.
"Du denkst nach ... Ich habe recht, oder?", hakt Jace nach und schiebt sich seine Mütze aus dem Gesicht.
Wie er wohl ohne sie aussieht?

"Ja, irgendwie schon. Dann lass mich die Frage anders formulieren: Was hörst du für Musik?"
Er zwinkert mir zu.
Im ersten Moment denke ich, ich habe mich verguckt.
"Ich mag es, dass wir diese Konversation mit Musik eröffnen, Ophelia Rosethorn."

"Dass du meinen Nachnamen kennst, ist gruselig", sagt ich und ziehe die Schultern hoch.
Zwischendurch vergesse ich immer, dass dieser Kerl in meinen persönlichen Sachen herumgewühlt hat.
"Weißt du eigentlich, dass meine Freunde wollen, dass ich dich anzeige?"

Ich schaue zu ihm herüber, während wir den Außenbezirk meiner Siedlung erreichen.
"Ihr redet über mich?", fragt Jace stattdessen.
Ich wende den Blick ab, als er mit hochgezogenen Augenbrauen auf mich heruntersieht.
"Lenk nicht ab! Was für Musik hörst du?"

Ich sehe, dass er mir widersprechen will, doch er schluckt die Worte hinunter.
"Ich stehe eher so auf das ältere Zeug. Kings of Leon, Green Day, Blink-182 ... Ehrlich gesagt, weiß ich gerade gar nicht, was in den Charts ist."
"Das müssen wir ändern."

Beinahe stoße ich ihn mit dem Arm an.
Er lässt mich vergessen, wie lange wir uns erst kennen.
Mit Jace fühlt sich alles so ... natürlich an.
Ich frage mich, ob das an seiner guten Menschenkenntnis liegt, die er sich selbst zugeschrieben hat, als ich mein Handy aus der Tasche ziehe.

"Ich habe Kopfhörer dabei. Lust ein bisschen was zu hören?"

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Song: Natalie - Milk & Bone

Hi cuties,
ich habe heute mit einer Freundin über das Schreiben geredet und wie cool es wäre, seine eigenen Gesichten zu verlegen...
Aber der Buchmarkt ist ja unglaublich hart. Das war so ziemlich unser Fazit des Gesprächs xD

Aber ihr würdet meine Bücher doch sicherlich kaufen, wenn es sie irgendwann mal gedruckt im Regal eurer Buchhandlung des Vertrauens gibt, oder? hehe
Träumen darf man ja ;P

All my Love,
Lisa

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt