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"Das darf doch nicht wahr sein", murmele ich.
Natürlich hört mich Jess nicht.

Sie bemerkt nicht mal, dass ich auf Tauchgang gegangen bin, so fokussiert ist sie auf den Barkeeper, dem sie umständliche Handzeichen macht.
Am liebsten würde ich mich jetzt auf den Boden kauern und rückwärts durch die Menge aus James' Sichtfeld verschwinden, doch dafür ist es zu spät.
Ich sehe, wie er sich an Jess vorbeischiebt und wie seine Schuhspitzen vor mir zum Stehen kommen.

"Ophelia! Was für eine Überraschung!"
Jetzt bemerkt auch meine Freundin den ungebetenen Gast und dreht sich um.
Ihr Grinsen verrutscht und nach einem schnellen Blick auf James, suchen ihre Augen meine.
Ich versuche gleichmäßig zu atmen und mich nicht noch mehr von den Scheinwerfern irritieren zu lassen.

James' helle Augen liegen auf mir, Jess ist für ihn gar nicht existent, leider.
Ich straffe meine Schultern und blicke mich um. Keine Chance ihm hier zu entkommen.
"James", nicke ich und zeige ihm dann die kalte Schulter, die er leider kurz darauf ergreift.
"Wir haben uns ja schon wirklich lange nicht mehr gesehen", grölt er in mein Ohr.

Ich verdrehe die Augen und versuche ihn abzuschütteln.
Jessica macht Anstalten sich zwischen uns zu schieben, doch sie taumelt zur Seite.
"Dann frag dich mal ernsthaft, warum ich mit dir reden wollen würde", spucke ich ihm entgegen und ertrage es nicht länger, als zwei Sekunden in seine Augen zu schauen.

Er zuckt mit den Schultern und grinst ein dämliches, übermütiges Grinsen.
"Frauen, wie du, sollten echt mal lernen sich zu entspannen. Immerhin seid ihr hier in meinem Club."
Jetzt tauchen Jessicas rote Haare vor mir auf.
"Ich habe deinen Namen aber gar nicht über der Tür stehen sehen, du aufgeblasenes Arschloch! Und jetzt lass sie in Ruhe!"

Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, aber ich weiß, mit welcher Verachtung sie ihn jetzt gerade anfunkelt.
"Nur weil du hier bist, heißt es nicht, dass wir nicht auch hierher- ... hierherkommen können."
Sie stößt auf und krallt ihre schwarz lackierten Fingernägel in die Bar.
James lacht ein kaltes Lachen.

"Aber das sage ich doch auch gar nicht, du Wildfang."
Ich würge innerlich.
"Ihr könnt herkommen, so oft wie ihr wollt, aber das hier ist immer noch mein Revier", knurrt er und beugt sich an Jess vorbei in meine Reichweite.

"Lass gut sein, Marison", schallt AJs tiefe Stimme über meinen Kopf hinweg.
Ich drehe mich um und begegne dankbar seinem emotionslosen Blick.
James zuckt nicht mal mit der Wimper, aber ich kann sehen, dass ihn AJs Anwesenheit zurück in seine Schranken weist.

Ich versuche, den alten James in diesem Jungen zu finden.
Wie kann sich ein Mensch nur so sehr verändern? Zu so einem gefühlskalten Monster werden, das über Leichen geht?
Und er hat es nicht mal nötig. Seine Familie ist mindestens so wohlhabend wie meine.
Egal wie oft ich meinen Blick über das mir so bekannte Gesicht gleiten lasse, ich erkenne ihn nicht mehr wieder.

Eigentlich habe ich gehofft, dass James Party im April das letzte Mal gewesen ist, bei dem ich ihm so dicht gegenüber stehen musste.
Ein hyänenartiges Lächeln gibt seine weißen Zähne frei und er nickt mir zu.
"War schön, dich mal wieder gesehen zu haben, Ophelia. Ich werde deinem Bruder einen lieben Gruß von dir ausrichten."

Mit diesen Worten dreht er sich um und winkt zum anderen Ende der Bar.
Mein Herz bleibt stehen, noch bevor sich die dünne, blase Hand aus der Menge erhebt und zurückwinkt, wie eine weiße Fahne.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, es handelt sich um einen Hilferuf.

James schaut nicht mehr zu uns zurück. Ich spüre, wie sich die Hände meiner Freunde um meine Arme schlingen, wie sie versuchen mir Halt zu geben, als auch sie realisieren, wer da am anderen Ende der Bar ist.
In diesem Moment zeichnet sich Bens aschfahles Gesicht von der schwarz-pinken Umgebung ab. Er entdeckt mich.

Unser Blickkontakt hält nicht länger als maximal fünf Sekunden. Dann lässt er sich bewusst zurückfallen, verschwindet in der Menge.
Er wirkte nicht geschockt oder überrascht, mich hier zu sehen. Kein bisschen Schuldgefühl war in seinen Zügen zu lesen.
Er hat mich einfach nur angesehen.

Und dabei hat er uns versprochen, geschworen nicht mehr in Clubs zu gehen.
Er hat Mom und Dad damals sein Ehrenwort gegeben. Jetzt weiß ich, wie viel es wirklich Wert ist.
Einen Dreck ist es wert!
Mein Bruder ist schwach. Sich in einem solchen Milieu herumzudrücken, bedeutet automatisch, dass er wieder Drogen nimmt.
Und das bedeutet, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis er wieder irgendwo bewusstlos in einer Ecke liegen wird.

Mir ist klar, dass das Moms Ende bedeuten wird.
Ob ihm das bewusst ist, ist mir unklar. Es scheint ihn jedenfalls herzlich wenig zu interessieren, was sein Verhalten mit anderen anstellt.
Ich stecke immer ein, halte mich immer zurück, stelle mich hinten an - auch für ihn und damit er in Ruhe gelassen wird.

Damit ist jetzt Schluss.
"Ich will doch noch was trinken! Shots!", rufe ich über die Musik und das Stimmengewirr um uns herum hinweg.
AJ und Jess tauschen einen langen, besorgten Blick aus.
Es ist mir egal, was sie jetzt über mich denken.

Ich dränge mich an einer Tussi in einem beinahe durchsichtigen Kleid vorbei und winke dem Barkeeper zu.
Im Gegensatz zu Jess kann ich seine Aufmerksamkeit sofort für mich gewinnen.
"Sechs Shots", brülle ich ihm entgegen.
Er nickt und ich zücke meine Kreditkarte. Vergessen sind die drückenden Schuhe und der DJ hat zum Glück auch zu anderen Künstlern gegriffen.

"Sechs? Na du gehst aber ran", erklingt AJs Stimme kaum verständlich hinter mir.
Ich drehe mich grinsend zu ihm um.
"Ich werde auch nur einmal einundzwanzig", gebe ich zurück.
Mein Grinsen verbirgt die Tränen und die brennende Wut in meiner Brust, die droht mich zu zerreißen.
Es ist schon lange keine bloße Wut mehr, es ist pure Verzweiflung.

AJ hilft mir die sechs kleinen Gläser entgegenzunehmen.
"Ich glaube, dass ich keine gute Idee, Ophelia. Wir sollten besser gehen", meldet sich meine beste Freundin zu Wort.
Ich verdrehe die Augen und rufe ihr ein: "Halt die Klappe" zu.

Nachdem jeder von uns zwei Gläser mit feurigem Alkohol heruntergewürgt hat, ziehe ich sie in eine halbherzige Umarmung, um ihr zu versichern, dass alles in Ordnung ist. Weil bei Ophelia Rosethorn ist immer, alles in Ordnung.
Egal ob der Junge, den sie liebt, todkrank auf der bunten Couch ihrer Tante schläft, die gerade dabei ist ihre labile Mutter wieder zusammenzuflicken oder ob ihr suizidgefährdeter Bruder sich wieder ins Nachleben stürzt - wer weiß, wie lange schon - mit der unausweichlichen Konsequenz eines Rückfalls.

Ja, Ophelia Rosethorn geht es immer gut.
Ich wirble zurück zur Bar und bekomme ein stures Nicken, als ich die nächste Runde bestelle.

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Song: Afraid - The Neighbourhood

hi :)

Ich weiß nicht ... heute muss ich mal wieder Danke sagen. Danke, dass ihr das hier lest, dass ihr immer so lieb kommentiert und einfach Danke, dass ihr hier seid <3

Wenn Corona vorbei ist (hahhahaa, manchmal glaube ich schon fast gar nicht mehr dran!) dann will ich auch mal mit meinen Freunden in einen Club gehen. Einfach um zu feiern, mal so RICHTIG! Wer weiß, ob das mal klappt ....

Ich hoffe, ihr hattet einen schönen Sonntag.

Und an die, die noch keine Ferien und keinen Urlaub haben ( ;) ) : Kommt gut in den Montag & lasst ihn uns zusammen durchhalten, ah!

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt