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Ich bin fast die ganze Nacht mit Jace allein.
Nur eine Schwester schaut zum Schichtwechsel zu uns herein.
Ich habe mich auf einen der Stühle neben das Bett gesetzt. Mein Rücken fühlt sich so an, als würde er jeden Moment auseinanderbrechen, aber ich halte mich aufrecht.

Ich habe versucht, Isabells zurückgelassene Zeitschrift zu lesen, doch gerade wenn ich mich auf den neusten Klatsch und Tratsch konzentrieren kann, zuckt Jace im Schlaf oder Schleim setzt sich in seiner Luftröhre fest und es entstehen unschöne Geräusche.
Also konzentriere ich mein Sehvermögen auf den schlafenden jungen Mann vor mir.

Seine zuckenden Augenbrauen kündigen an, wann immer er kurz davor ist, seinen Kopf von einer Seite auf die andere zu rollen.
Dabei wirkt er so grimmig und teuflisch, wie in der Unterführung, als ihn das spärliche Licht gefährlich aussehen lassen hat.

Bei dem Gedanken an den Tag, als er mich nach Hause begleitet hat und der Wind beinahe so eisig war wie heute, möchte ich nach seiner entspannten Hand vor mir greifen und sie gegen meine Stirn pressen. Ich will seine kühlen Finger an meiner Haut spüren. Ich wünsche mir, ich könnte zurück an den zugigen Bahnhof und alles noch einmal durchmachen.
Ich würde noch mehr Augenmerk auf Jace als Menschen legen und ihm weniger Argwohn entgegenbringen.

Wenn er doch nur noch einmal von oben auf mich herablächeln könnte, während er noch ein völlig Fremder für mich ist, von dem ich mich angezogen fühle, obwohl ich ihn von mir stoßen sollte.
Die ganze Zeit über ist mir die Zeit mit Jace durch die Finger geronnen. Und ich konnte sie damals wie heute nicht aufhalten.

Ich betrachte seine glatte Stirn.
Seine Uhr läuft ab und ich habe keine Stunden- oder Minutenangabe.
Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch so ansehen und mich erinnern kann.
Ich vergesse das Blinzeln und blau-schwarze Sterne tanzen vor meinen Augen, während ich auf seinen Atem lausche und versuche meinen Atemrhythmus an seinen anzupassen.

Aber meine Lungen wollen mehr.
Ich schaue auf mein Handgelenk, an die Stelle, um die vorhin noch lange, schlanke Finger langen und mich mit ihrer kaum spürbaren Berührung an verblasste Sonnenstrahlen erinnerten.
Sonnenstrahlen, die durch das dichte Laubwerk der Eichen im Gunflint Park auf uns herabgefallen sind.

Ich empfinde nach, wie ich meine Hand hob, um seine gerötete Wange zu streichen und eine braune Locke um meinen Finger zu wickeln. Das Gras kitzelte unsere Hände, die wir auf den warmen Boden gestützt hatten, um die Lücke zwischen uns zu schließen.
Der Himmel ist so blau gewesen.

Die Sonne fing sich in den tausenden Grüntönen über unseren Köpfen. In den Grüntönen, die mich für immer an seine Augen und das Funkeln darin erinnern werden.
Und aufgrund dieser vergangenen Zweisamkeit fühle ich eine große Abneigung gegenüber dem Gedanken, mich nicht allein von Jace verabschieden zu können.

Es gab nur uns in der Wohnung meiner Tante, die wir zu einem Zuhause gemacht haben.
Es gab nur uns im Halbschatten der Eiche. Und ich wünsche mir so sehr, dass es ein letztes Mal nur uns geben würde.
Aber wir sind nicht mehr allein, hier sind so viele Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Margret und Isabell könnten jeden Moment durch die Tür kommen.

Ich rücke immer weiter in den Schatten des Geschehens, mit dem Rücken zur Wand und verbrauchter Luft in den Lungen.
Ich will mich nicht vorzeitig von ihm verabschieden, aber ich weiß auch, dass es ohne vorzeitigen Abschied wahrscheinlich zu gar keinem Abschied kommen wird. Und damit versuche ich mich gerade im Stillen abzufinden. Ich versuche einfach bei ihm zu sein.

Ich habe ihn gefragt, oder er Angst hat.
Er hat verneint. Er hätte sich lange genug darauf vorbereitet.
Als er das ausgesprochen hat, habe ich uns wieder im Park gesehen. Nur dieses Mal wurde die malerische Szene von dem Gedanken überschattet, dass Jace über seinen Tod nachdacht hat, während er am robusten Stamm der Eiche lehnte, die Augen geschlossen und ein friedliches Lächeln auf den Lippen.

Er wollte so nicht enden. Er wollte Sonne und Vogelgezwitscher, vielleicht auch einfach nur die bunte Couch.
Stattdessen liegt er jetzt in dieser sterilen Umgebung.
Aber am Ende scheint man es sich doch nicht aussuchen zu können.

Wie hat Isabell so schön gesagt? Manchmal trifft das Leben die Entscheidungen für dich.
Ich lehne mich vor und berühre seine Hand.
Ich werde ihn festhalten, solange ich kann. Bis das Leben für mich entscheidet ... so lange werde ich entscheiden.

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Song: The Night We Met - Lord Huron

Hi loves <3

Ich kündige hiermit eine dreitägige Pause an. I am behind schedule and stressing myself the fuck out.
Also am Sonntag wird das nächste Update kommen, vielleicht aber auch am Samstag ;P

Ich musste einfach noch mal einen schönen, melancholischen Rückblick zu glücklicheren Zeiten machen, hope u liked it :)

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt