155.

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Sofort schlägt uns die säuerlich riechende Luft entgegen. Mein Magen krampft sich zusammen.
Ich kann die Augen kaum zum Bett heben, habe Angst diesen Ausdruck auf Jaces Gesicht wiederzusehen.
Doch als ich Jace sehe und die Art, wie er mich anblickt, verschwindet der Krampf aus fast all meinen Muskeln.

Er ist immer noch Jace. Der Junge, den ich liebe.
Seine Augenlider flattern und er hebt den Blick in meine Richtung.
Mittlerweile hat er sich wieder die Beatmungsmaske übergezogen.
Sie hinterlässt fürchterliche Abdrücke auf Nase und Wangen. Rote und weiße Furchen, die sich durch seine ebenmäßige Haut reißen.

Er bemerkt meinen Blick und klopft neben sich auf das Bett.
Ich betrachte weiterhin das durchsichtige Ding auf seinem Gesicht und würde es ihm am liebsten herunterreißen, um sein Gesicht in gewohntem Zustand zu sehen.
Ich will seinen Mundwinkel zucken sehen, seine geschwungenen Lippen und das Grübchen.

Margret steht vom Fußende auf und kommt auf mich zu, nimmt meine Hand und drückt sie kurz.
Dann wischt sie mir über die Wangen, wie es nur eine Mutter tun kann und sieht mir fest in die Augen.
"Das wird schon", sagt sie mit fester Stimme und bewegt einmal mit dem Kopf auf und ab.

Ich drücke ihren Handrücken. Sie will mir Mut machen und ich ihr. Dabei habe ich fast keinen mehr.
Sie setzt sich wieder an den runden Tisch vor dem Fenster, ich stehe unbeholfen vor der Tür.
"Wie geht es dir?", frage ich Jace leise.
"Gut, ich bin noch da."

Tränen beginnen in meinen Augenwinkeln zu brennen, während ich mich daran erinnere, dass ich Jace den Tod wünsche. Denn ich habe Angst, dass mit jeder weiteren Minute, die er so verbringen muss, für ihn eine gute aus seinem Leben gelöscht wird. Eine Minute mit mir.
Die Matratze ist noch genauso unbequem wie am ersten Tag, nur merke ich es jetzt fast nicht mehr.

Ich spüre nur Jaces klamme Hand auf meiner Haut. Seine Hände haben an so viel Kraft verloren. Es ist, als würde ein seichter Frühlingswind nach meinen Gliedmaßen greifen wollen, aber er kann mich nicht halten, ich kann ihn nicht halten.
Seine Gesichtshaut wirkt gelblich. Sie sieht mit jedem Tag schlechter aus - Jace sieht mit jedem Tag schlechter aus. Bald werde ich ihn gar nicht mehr sehen.

Aber seine Fähigkeit mich zu lesen, hat er nicht verloren, denn er erahnt die dunklen Gedanken hinter meinen Schläfen und sagt: "Ich schaffe das schon."
"Natürlich schaffst du das."
Ich weiß nicht, worüber wir reden. Den Tod? Wird er es schaffen zu sterben? Wird er es schaffen, seinen letzten Atemzug zu tätigen? Oder wird er es einfach nur schaffen, jetzt in diesem Augenblick meine Hand zu halten?

Das Schrecklichste an unserer Situation ist, dass ich nicht mehr weiß, was ich zu ihm sagen soll. Meine Gedanken sind zu trist, zu entkräftet. Ich möchte ihn zum Lachen bringen und für eine Sekunde nur, den alten Jace sehen - noch ein einziges Mal. Aber ich kann ihn nicht heraufbeschwören, wenn ich es versuchen würde, würde es sich wie die größte Lüge meines Lebens anfühlen.

Ich muss der Wahrheit ins Gesicht blicken. Ich muss meinen Kopf heben und in die ungeheuerlichen Augen meines Gegenübers starren und einsehen, dass die Zeit des unbeschwerten Lachens der Vergangenheit angehört.
Es kostet mich viel, trotz dieser Gedanken weiterhin in Jaces Gesicht zu blicken.

"Es tut mir leid, dass ich nicht mehr so viel sage", bricht es schließlich aus mir heraus und mit den Worten ein Dutzend heißer Tränen.
"Muss es nicht. Es reicht mir, dich anzuschauen und zu wissen, dass du da bist."
Sein Daumen kreist schwach und ungleichmäßig über meine Finger.

"Ich werde dich nicht alleine lassen", verspreche ich heißer.
Wir schweigen.
Ich trockne meine Tränen und schaue auf unsere Hände herab. Meine sieht neben seiner so frisch aus, wie ein Rosenblatt.

Jace will ansetzen, um etwas zu sagen, doch ein Hustenanfall verhindert das Austreten eines einzigen Wortes.
Die Atemmaske beschlägt.
"Willst du etwas trinken?", frage ich besorgt, bereit aufzuspringen.
Auch Margrets Stuhl kratzt bereits über den Boden.

"Nein", wert er atemlos ab und hebt die freie Hand.
Ich warte geduldig, bis es wieder still um uns wird.
"Ich genieße gerade den Moment, in dem ich nicht kotzen muss. Da kann ich dich besser ansehen", sagt er dann mit rauer Stimme.

Lachend blicke ich zur Decke.
"Es fühlt sich falsch an zu lachen."
Ich suche seine grünen Augen und presse meine Lippen aufeinander.
"Warum? Solche Gesichtsausdrücke sehe ich in den letzten Tagen selten. Und ich vermisse sie."
Bei diesen Worten wirft er einen Blick zu den Frauen hinter mir.

Er sieht uns nicht mehr, wie er uns kennt.
Ich will mich entschuldigen, dafür, dass auch ich ihn nicht mehr so sehe, wie ich ihn kenne, aber sein wacher Blick bohrt sich in mein Inneres, untersagt mir, den Mund aufzumachen.
Einige Dinge scheinen sich nie zu ändern. Und für diese Tatsache schenke ich ihm ein halbwegs unverkrampftes Lächeln.

Warme Finger legen sich auf meine Schulter. Margret.
Ihr Atem riecht nach Kaffee und ihr buntes Stirnband ist verrutscht. Ich habe sie nicht kommen hören.
"Willst du dir nicht mal eine Pause gönnen?", fragt sie in leisem Ton.
Ich drehe mich zu ihr um.

Ihre Augen sind dunkel unterlaufen, sie sieht müde aus.
Aus irgendeinem Grund kann ich dazu nichts sagen, ich habe Angst nach Hause zufahren. Ohne Jace ist es das auch nicht mehr; ein Zuhause. Es wird nur noch die Wohnung meiner reichen Tante sein.
"Solltest du wirklich, O", erklingt Jaces leicht gedämpfte Stimme.

Ich blicke zu Isabell.
Sie steht mit schief gelegtem Kopf am Fenster und beobachtet uns, die Füße gekreuzt.
Man könnte meinen, sie wartet vor einem Kino auf den Einlass oder auf den Bus, der sie jeden Morgen zur Arbeit bringt, aber nicht auf den Tod ihres Bruders.

Mein Augenmerk fällt wieder auf die Frau vor mir. Ich vermisse ihre lebensbejahende Ausstrahlung, auch wenn ich ihr hoch anrechne, wie sehr sie sich für Jace und Isabell und auch für mich zusammenreißt, ohne Gefühlskalt zu sein.
Ich möchte ihr das Stirnband gerade ziehen, das mehr von ihrem grauen Ansatz preisgibt als sonst.

Sie wartet auf eine Antwort.
"Du musst duschen und etwas essen. Jetzt geh", befiehlt Jace im gleichen Ton, indem seine Schwester mir befohlen hat, aufzustehen. 
"Ja ... Vielleicht sollte ich das."

Es ist schwer sich eine längere Pause zu genehmigen, wenn man nicht weiß, ob bei der Wiederankunft alles noch so ist, wie man es zurückgelassen hat.
Ich nicke. Ich muss wirklich etwas essen, das nicht in einer Krankenhaus-Cafeteria hergestellt worden ist. Ich will meine Schuhe ausziehen und die Socken wechseln und vielleicht, nur vielleicht, für ein paar Minuten im Bett liegen und die Welt hier draußen vergessen.

"Ich komme ganz schnell wieder", flüstere ich zu Jace und beuge mich herunter, um seine Stirn zu küssen.
"Ruh dich aus", sagt Margret sanft.
Sie nimmt meinen Platz auf dem Bett ein. Ganz sachte lässt sie sich in die Matratze sinken und legt eine Hand auf Jaces Bein.

Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Es wäre eine so friedliche, liebevolle Szene, wenn da keine Tränen in ihren grünen Augen wären.
Natürlich. Auch sie möchte ein bisschen Zeit mit ihrem Sohn verbringen, ohne mich.
Ich greife meine Jacke und Tasche von der kleinen Garderobe neben der Zimmertür, verabschiede mich von Isabell mit einem Nicken und wende mich Jace ein letztes Mal lächelnd zu.

Mein Blick ruht etwas zu lange auf der Mutter, die bei ihrem Sohn sitzt.
Ich kann Jaces Lächeln nicht sehen, aber das von Margret.
Dann lasse sie und ihre Tochter - bald ihr einziges Kind - mit Jace zurück.

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Song: You're Somebody Else - flora cash

hi, 

"Du musst duschen." Nett, oder? xD

Ich muss es kurz machen, aber eins noch: I LOVE YOU ALL!!! <3
bis morgen xx

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt