145.

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Die Rückfahrt verbringen wir schweigend, beide den Gedanken an das vergangene Essen nachhängend.
Ich frage mich, was Jace von meinen Eltern hält - wirklich hält -, jetzt wo er sie kennengelernt hat.
Die verurteilenden Blicke meiner Mutter verfolgen mich, auch als wir die Wohnungstür im zweiten Stock aufschließen.

"Bin ich froh, dass wir das hinter uns gebracht haben", seufze ich und lasse mich auf die bunte Couch fallen.
Jace lehnt den Kopf gegen den weißen Stein des Rundbogens und betrachtet mich aus verschleierten Augen.

"Trotzdem bin ich dankbar, sie kennengelernt zu haben", sagt er andächtig.
Sein Ton lässt mich hellhörig werden und ich richte mich auf, auch wenn mein Rücken vom angespannten gerade sitzen schmerzt.
"Du willst das aber nicht noch mal wiederholen, oder?"

Er lacht auf und kommt zu mir. Die Polster geben unter seinem Gewicht nach und ich lehne mich augenblicklich gegen seine Brust.
"Nein", antwortet er und spielt mit einer Haarsträhne in meinem Nacken. "Aber jetzt weiß ich, warum dein Lachen deine Augen früher nicht erreicht hat."

Ich beiße auf meine Unterlippe und kämpfe mit den Tränen. Ich drehe meinen Kopf noch ein bisschen weiter nach rechts, damit er mein Gesicht nicht einsehen kann.
Dieser Tag war anstrengend genug, hat mir nur allzu gut vor Augen gehalten, wie kaputt meine Familie doch ist.

Ich lasse es schwarz vor meinen Augen werden und konzentriere mich auf Jaces Brustkorb, der sich unter meinem Kopf hebt und senkt.
"Ich glaube, ich kann heute Abend nichts mehr essen", lacht er nach einer Weile.
Meine Finger glätten den Stoff seines Hemdes und fahren die Umrandungen von dem imposanten Schmetterling nach.
Isabells Schmetterling.

"Ich auch nicht", hauche ich.
Die Hand an meinem Hinterkopf verschwindet. Jace beginnt sich aufzurichten, schiebt mich von sich, damit er aufstehen kann und verlässt den Raum mit einem sanften Lächeln.
Ich sinke zurück in die Polster, die nur halb so bequem sind, wie seine Brust.

In meiner Wut und meinem Trotz beschließe ich das Haus meiner Eltern nie wieder zu betreten.
Ich starre an die Decke und bohre meine Nägel in meine Handflächen.
Ich werde ihnen nie wieder den Gefallen meiner Anwesenheit tun.
Dad wollte lediglich die Wogen glätten und mich zurück an Bord holen, zu seinen alleinigen Vorteilen und weil er es nicht ertragen kann, dass ich mich widersetze. Und Mom hat einfach mitgespielt, weil sie ihm gegenüber keine eigene Meinung äußern kann.

Ich beginne gerade zu bereuen, dass ich nicht zu Ben hochgegangen bin, da fällt etwas auf den Küchenboden.
"Alles okay?", rufe ich.
"Ja, ja", kommt die nicht glaubwürdige Antwort.

Ich stehe langsam auf und strecke meinen stechenden Rücken.
Jace raschelt mit irgendetwas. Der Wasserhahn wird aufgedreht.
Schon vom Flur aus kann ich ihn vor der Spüle stehen sehen. Er wirft den Kopf nach hinten, würgt eine Tablette mit ein paar großen Schlucken Wasser herunter.

"Was ist das?"
Meine Stimme klingt fremd, fern, als würde sie aus einem anderen Teil des Raumes kommen.
Jace dreht sich nicht zu mir um. Er stellt das Glas ab und stützt sich mit beiden Armen auf der Arbeitsfläche ab.

Ich kann die Venen an seinen Unterarmen hervortreten sehen.
Sein Kopf fällt nach vorne, wie in Kapitulation. Seine Schultern verlieren scheinbar alle Spannung.
Ich betrete den Raum, ertrage die erdrückende Stille und warte auf eine Antwort.
"Schmerzmittel", fällt sie von seinen Lippen, als ich neben ihm zum Stehen komme und nun selbst die weiß-blaue Tablettenpackung auf dem Holz liegen sehe.

Ich atme zitternd aus und nehme die Pappschachtel in die Hand.
"Ist es so schlimm?"
Die Frage ist dumm, überflüssig, völlig verblendet, aber mir fällt in diesem Moment nichts Besseres ein.

"Ist es dein Bein?", frage ich weiter, doch der junge Mann vor mir bleibt stumm.
Ich erinnere mich an sein schmerzverzerrtes Gesicht und den hilflosen Griff um sein Bein, als wir das Esszimmer meiner Eltern betreten haben.
"Jace, du musst mit mir reden. Sowas musst du doch nicht vor mir verheimlichen."

Ich suche seinen Blick, doch seine Augen sind auf einen unbestimmten Punkt gerichtet, vor den ich mich nicht schieben kann.
Er steht zwar vor mir, aber er ist gerade meilenweit von mir entfernt.
"Hör auf so zu tun, als ob du alles unter Kontrolle hast."

Ich strecke meine freie Hand nach ihm aus. Meine kaum existente Berührung erweckt ihn zum Leben.
Aufbrausende Augen bohren sich in die meinigen und lassen mich instinktiv einen Schritt zurück machen.
Er schlägt mit der flachen Hand neben die Spüle.
Der Knall geht mir durch Mark und Bein. Ich kann nur dastehen und ihn fassungslos ansehen.

"Aber ich will alles unter Kontrolle haben! Das hier ist immerhin mein Leben, also halt dich raus!", brüllt er mir entgegen.
Ich kann es nicht verhindern; meine rechte Hand legt sich in Schock über seine Worte auf mein Brustbein. Aber damit kann ich den dumpfen Schmerz, der sich darunter ausbreitet, nicht aufhalten.

"Das meinst du nicht so", ringe ich mit gebrochener Stimme hervor. Sie klingt noch fremder.
"Doch! Und jetzt raus! Bitte."
"Jace, wir können doch einfach darüber reden. Ich will doch nur, dass du mit mir redest, mich nicht mehr aussperrst!"

Verzweifelt suche ich nach den richtigen Worten. Doch in Situationen wie diesen gibt es keine richtigen Worte. Es gibt nur die falschen, die als Worte getarnte Waffen fungieren, die ihr Ziel nie verfehlen.
"Du willst. Ophelia, die Gewinnerin, kann nicht immer nur fordern. Denn was, wenn ich nicht will? Ich will das alles hier nicht, also lass uns doch bitte einfach so tun, als ob das nie passiert wäre!"

"Aber das kann ich nicht."
Es ist die Wahrheit. Ich hätte nicht falscheres sagen können.
"Wenn wir darüber reden würden, würde spätestens dein zweiter Satz das Wort 'Arzt' oder 'Krankenhaus' beinhalten, machen wir uns doch nichts vor!"

"Ja! Weil es das Richtige ist!"
Tränen brennen in meinen Augen und rollen über meine glühenden Wangen. Ich hasse es, wie schnell er mich zum Weinen bringen kann.
"Kannst du mich bitte kurz allein lassen?"
Er wendet sich von mir ab, doch ich bleibe wie angewurzelt stehen.

"Nein", verkünde ich gefasst und wische meine Tränen fort. "Ich habe dir schon hunderttausendmal gesagt, dass ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe. Wenn ich jetzt sehe, wie du verstohlen Schmerztabletten in der Küche schluckst, werde ich nicht wegsehen und so tun, als ob du alles unter Kontrolle hast. Wo hast du die überhaupt her?"

Mit hochgezogenen Augenbrauen halte ich die Tabletten fragend in die Höhe. Jace reißt mir die Packung aus der Hand, verschließt sie und lässt sie anschließend in einer Schublade verschwinden.
"Von einem Freund."
"Einem Freund", spucke ich verächtlich aus. "Einer von diesen Freunden, die dir ein blaues Auge verpasst haben?"

Ich mache wieder ein paar Schritte auf ihn zu.
"Nein. Er ist ein Freund, er versteht, in was für einer Lage ich mich befinde."
"Ach, willst du damit sagen, dass ich das nicht weiß?!"
Er wirft mir einen Seitenblick zu, bevor er wieder anteilnahmslos vor sich hinstarrt.

"Hör auf so zu tun, als ob ich nicht da wäre!", befehle ich und bin drauf und dran ihn gegen den Arm zu boxen.
"Du weißt, dass ich recht habe", schiebe ich hinterher.
Ich mache meinem Namen, dessen Bedeutung ich bis dato immer gehasst habe, alle Ehre, als grüne Augen mich mit tiefer Trauer anblicken.

Darum geht es: Er weiß, dass ich recht habe.

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Song: Youth - Daughter

Hey y'all
well... es musste leider soweit kommen.
Jace ist einfach total auf Angriff, wenn es um seinen Krebs angeht.
Manchmal entstehen solche Streits zwischen den beiden so "natürlich". Ich habe sie gar nicht geplant (wie heute), aber sie ergiben sich eben xD

Tja, macht euch morgen auf was gefasst...

Ich habe heute 2 Büsche geschnitten & werde jetzt noch malen :) - ja, ich mache auch mal Freizeit!

All my Love,
Lisa xoxo

P.S. "nichts falscheres" ist richtig, I swear!

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt