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"Das Schlimmste daran zu wissen, dass du stirbst, ist, dass plötzlich all deine Ziele und Träume mit dir sterben, und zwar noch vor dir. Und als ich das bemerkt habe, habe ich es mir zum großen Ziel gesetzt, wenigstens einen kleinen Teil von meinem gesunden Ich am Leben zu halten."
Ich bin an seine Lippen gefesselt. Wenn das alles nicht so schrecklich wahr wäre, dann wären seine Worte einfach nur poetisch und auf erbarmungslose Weise wunderschön.

Ich werde immer noch davon verzaubert, wie er gewisse Dinge ausspricht und betont, wie er unsere Sprach biegt und mit ihr erzählt, wie ich noch nie jemanden erzählen hören habe.
"Ich meine ... ich bin jung. Ich sollte mein verdammtes Leben vor mir haben, ich sollte meine Reise quer durch Europa planen."

Du wirst nach Europa kommen, widerspreche ich in Gedanken und beiße auf meine Zunge bis ich wieder Blut schmecke.
"Ich wollte irgendwann den Mauna Kea besteigen, irgendwo am Strand entlang joggen und einen Surfkurs machen. All das war plötzlich nichtig, einfach so vom Tisch gewischt. Ohne triftigen Grund. Denn winzig kleine Geschwüre, die meinen Körper befallen haben, waren damals kein triftiger Grund für mich, dass all das für mich mit einem Schlag unmöglich sein sollte. Das sind sie, ehrlich gesagt, auch heute noch nicht wirklich, aber ich denke nicht mehr so oft darüber nach."

Jace lässt meine Locken durch seine Finger gleiten. Ich vermisse seine Berührung augenblicklich, als er sich zurückzieht, aber ich verstehe, dass er gerade Abstand braucht.
Wir beide haben Angst davor, uns emotional zu entblößen, nur eben auf andere Weise.

"Mein Lebenstraum, Bergsteiger zu werden, wird nie in Erfüllung gehen. All das sind Aspekte, die mit der Diagnose plötzlich auf dich einprasseln und du kannst nichts, aber auch gar nichts dagegen tun, um dich vor ihren scharfen Kanten zu schützen. Sie zerstückeln dich bei vollem Bewusstsein. Und mir war klar, dass sie auch alles um mich herum zerstört hätten. Also ..."

"... bist du gegangen", beende ich seinen Satz.
Jace nickt, vereinzelte Locken fallen in seine Stirn.
Ich räuspere mich sachte.
"Das war deine Entscheidung, aber ich muss das jetzt sagen .... Auch, wenn es deiner Familie weh getan hätte, dich ... so krank zu sehen, du hättest ihnen diese Entscheidung nicht abnehmen dürfen."

"Doch. Ich musste es tun. Meine Mutter hätte sich für mich verschuldet! Das weiß ich, ich kenne sie - du nicht."
Ich zucke zusammen, weiß, dass er recht hat. Dennoch, ich kann hier nicht sitzen und so tun, als ob ich diese eine schwerwiegende Entscheidung für richtig halte.
Jace vergräbt sein Gesicht in den Händen. Ich höre seinen schweren Atem hinter seinem Schutzschild aus Haut und Knochen.

"Ich werde nie eine eigene Familie haben, nie ein eigenes Haus besitzen, nie die Möglichkeit haben, mich hochzuarbeiten und mir meinen Platz in der Welt zu verdienen", dringt seine gedämpfte Stimme zu mir. "Es ist verdammt schwer, plötzlich keine Ziele mehr vor Augen zu haben."
Das kann ich mir vorstellen, auch wenn ich es nie nachvollziehen und begreifen kann.

Ich taste nach seiner Hand.
"Ich kann dir nur sagen, dass du dankbar sein musst, so eine Familie zu haben. Nicht jeder von uns hat dieses Glück. Ich kann mir vorstellen, dass es dir unglaubliche Angst gemacht haben muss, ehrlich zu sein und dass du deswegen den einfacheren Weg gegangen bist. Aber sie könnten jetzt hier bei dir sein. Hier", sage ich mit Nachdruck.

"Den Weg, den ich gewählt habe, war nicht einfacher. Meine Mom kam in den ersten Monaten sicherlich fast um vor Sorge ... Weißt du, ich habe darauf gepokert, dass sie mich irgendwann hassen wird, weil ich sie im Stich gelassen habe wie mein Dad und dass sie dann damit leben kann. Sie hat früher immer gesagt, dass es die zweitgrößte Strafe im Leben sei, seine Kinder zu überleben."

Ich schüttele den Kopf und betrachte den scharfkantigen Schatten, den der Esstisch auf das Parkett wirft.
"Verstehst du nicht, dass du deiner Mutter nichts Schlimmeres antun kannst, als sie dazu zu bringen, dich zu hassen? Das ist etwas, dass keine Mutter einfach so kann. Ich kann meine Mutter für ihre Kälte und ihre Fehler hassen, aber ich weiß, dass sie mich nie hassen könnte. Ich bin ihr vielleicht in vielerlei Hinsicht egal, aber sie könnte mich nie hassen. Das weiß ich."

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt