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Der Weg aus dem Krankenhaus fühlt sich im ersten Moment wie eine Erleichterung an, auch wenn mir die Last von meinen Schultern nicht genommen wird. Sie bleibt nicht hinter den Glastüren, sie kommt mit mir.
Ich ziehe meine Jacke nicht an, lasse den Wind durch meinen Pullover fahren und an meinen Haaren reißen. Die frische, klare Luft ist ein Segen verglichen zu der abgestandenen Luft in Jaces Zimmer und ich fülle meine Lungen mit dem Herbstgeruch der Stadt.

Jace hat mir vor ein paar Tagen gesagt, dass ich ab jetzt für ihn mit atmen muss.
Dieser Satz lässt mich nicht mehr los und schon gar nicht der Klang, den seine Stimme dabei angenommen hat.
Ich hole erneut tief Luft und blicke zum Krankenhaus hinüber.
Hinter einem der verspiegelten Fenster im oberen Stockwerk liegt er.

Ich bin kurz davor umzudrehen, doch mein Daumen drückt bereits auf den Autoschlüssel, entriegelt meine Türen.
Die Seiten des weißen Minis sind mit Schlamm bespritzt. Vereinzelte bunte Blätter klemmen unter den Scheibenwischern. Früher wäre ich noch am selben Tag in die Waschanlage gefahren, heute ist es mir mehr als egal, wie dieses Auto aussieht.

Dennoch muss ich an Dad denken und wie er mir diesen Mini geschenkt hat.
"Reiß dich zusammen", knurre ich durch meine Zähne und steige ein.
Aus dem Radio schallt ein fröhlicher Popsong, einer der geschrieben wurde, um an den vergangenen Sommer zu erinnern und wie toll dieser doch war.

Aber ich will nicht an den Sommer denken, an die warmen Tage, die wir unter der alten Eiche verbracht haben oder an unsere Abendessen in der Wohnung, während denen das goldene Abendlich über uns floss wie flüssiges Gold.
Ich will nicht an unsere Streite denken und unsere Treffen mit Jess, nach denen wir verkatert aufgewacht sind.

Der Sommer mit all seinen unbeschwerten, glücklichen Tagen liegt hinter uns und so lange Jace da oben im Krankenhaus liegt, kann ich nicht die Kraft aufbringen, mich an ihn zu erinnern.
Ich drücke den roten Knopf. Stille kehrt ein, schließt mich in dem kleinen Raum ein.
Ich rolle vom Parkplatz, werde von einem Krankenwagenfahrer gegrüßt, der wahrscheinlich selbst durch die Windschutzscheibe erkennen kann, wie fertig und verlassen ich aussehe.

Vielleicht ist Stille doch nicht das Beste.
Wenn es still ist, höre ich meine Gedanken um so lauter und es gibt keine Ablenkung, in die ich mich flüchten könnte.
Ich warte, bis ich an der ersten roten Ampel halten muss und suche nach einer Talkshow.

Ich höre nicht zu, was das heutige Thema ist. Ich bekomme nur mit, dass heute Montag ist.
Die monoton klingenden Worte lullen mich ein und so fahre ich blind den Weg zurück in die Innenstadt Fitchburgs.
Ich starre stur geradeaus in das Auto meines Vordermannes, als ich den Gunflint Trail Park passiere.

Die Passanten, die unbekümmert im Park flanieren, kann ich jetzt nicht ertragen.
Ich wische über meine laufende Nase. Was kann ich eigentlich noch ertragen?
Im Autopiloten parke ich meinen Wagen, steige aus, vergesse beinahe meine Tasche und eile dann zum Wohnhaus.

Meine Familie würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie sehen würden, wie ich mich in der Öffentlichkeit zeige.
Das Treppenhaus mit dem blauen Handlauf begrüßt mich mit seinem üblichen modrigen Geruch.
Gleich habe ich es geschafft, denke ich und beiße die Zähne zusammen.

Auch, wenn ich die letzten Tage nur mit sitzen zugebracht habe, tun meine Füße plötzlich erstaunlich weh. Und mein Rücken.
Als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fällt bleibe ich einen Moment wie angewurzelt im Flur stehen und starre durch den Rundbogen auf den massiven Esstisch, auf den das milchige Licht des Nachmittags fällt.

Auf dem bunten Teppich vor der Couch liegt Jaces Mütze.
Meine Tasche fällt mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, meine Kehle ist wie zugeschnürt.
Sie liegt einfach so da. Vergessen und doch am richtigen Ort.
Ich hebe sie auf und lasse meine Finger über das angeraute Material fahren.
Jaces Mütze.

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt