Kapitel drei

56 8 0
                                    

Mit keuchendem Atem schrecke ich hoch. Das wievielte Mal bin ich jetzt aufgewacht? So oft, dass ich es nicht mehr zählen kann. Vorsichtig taste ich nach dem Schalter der Nachttischlampe neben mir, erst beim dritten Versuch erwische ich ihn. Die Birne glüht hell und erleuchtet das Zimmer in einem kuscheligen Licht. Die Buchrücken im Regal gegenüber wirken einladend in dem schummrigen Licht, und doch würde ich jetzt kein einziges Wort lesen können. Das Einzige, wozu ich bereit bin, ist es, auf die Uhrzeit zu gucken. Mein Handy zeigt eine grelle Fünf an, hinter der eine zweistellige Zahl vor meinen Augen verschwimmt. Schlafen werde ich jetzt eh nicht mehr können. Also klettere ich vorsichtig aus dem Bett und setze meine nackten Füße auf den Holzboden; es fühlt sich vertraut an. Fast wie ein Zuhause. Eilig schiebe ich den Gedanken bei Seite und tappe zu dem Schreibtischstuhl, auf dem ich meinen Hoodie abgelegt habe, bevor ich gestern keine Lust mehr hatte, meine Schlafsachen aus dem Koffer zu kramen. Ich habe kurzer Hand in Unterwäsche geschlafen, nachdem ich geprüft habe, ob die Tür wirklich abgeschlossen ist. Shit, langsam sollte ich wirklich zur Toilette gehen. In ein Bad, das ich definitiv nicht betreten will. Und trotzdem muss ich. Verbissen ziehe ich mir meinem Feminist-Hoodie über den Sport-BH und ziehe ihn soweit über die Oberschenkel wie es geht. Um noch ewig nach meinen Sachen zu suchen, ist der Druck in meiner Blase etwas zu groß. Also tapse ich möglichst leise zur Tür, entriegele sie und trete auf den frischen Gang hinaus. Alles ist gespenstisch still. Nur der Boden knarzt leicht unter meinem Gewicht, als ich besonders leise an Tims Tür vorbeischleiche. Das Letzte, was ich brauche, ist meinem Exfreund zu begegnen. Aber er war damals ein Langschläfer genau wie Luna und Maik welche sind. Und das beruhigt mich ziemlich, wenn ich darüber nachdenke, dass ich sehr viel Zeit haben werde, die ganze Wohnung zu inspizieren und nicht unter ständiger Beobachtung der anderen zu sein. Vielleicht fühle ich mich etwas weniger fremd, wenn ich das hier alles selbst erkundet habe. Es ist ja nicht so, dass ich in privaten Dingen herumwühlen will, ich wüsste einfach nur gerne, wo ich wenigstens ein Glas oder einen Teller finde. Nicht einmal das weiß ich! Etwas zu laut stoße ich die Badezimmertür auf, aber es knackt nicht. In dem leichten Sonnenlicht gucke ich ums Eck hinter die Tür, hinter der sich diese Gummiaufkleber befinden, die Löcher in der Wand vermeiden sollen. Neugierig schaue ich mich um, nachdem ich die Tür zugesperrt habe. Vor mir liegt ein wahnsinnig modernes Bad, das mit der Holzbank in der Mitte des Raums an eine Mannschaftskabine erinnert; drum herum sind zwei große Waschbecken mit Hängeschränken, eine erhöhte Dusche, Waschmaschine und Trockner, die Toilette und ein Schrank gebaut. Nicht schlecht. Meine Finger streichen ganz automatisch über die geflieste Wand, die sich eiskalt unter meinen Fingern anfühlt. Sofort zucke ich zurück und trete einen Schritt zurück. Ist es falsch? Sollte ich mir das hier vielleicht wirklich nicht zu eigen machen? Wohne ich überhaupt hier? Ich begegne meinem kritischen Blick im Spiegel, der zwischen den beiden Waschbecken hängt. Langsam trete ich immer näher heran, bis der Spiegel von meinem Atem beschlägt. Doch da sind nicht nur meine braunen Augen, sondern auch Zahnpastaflecken, Atemflecken und ein paar Gelflecken wie von Seife oder Duschgel. Mein Blick folgt der Spur von lila Tropfen hinab, an dem weißen Schalenbecken hinunter auf die geschlossenen Schränke, die sich unter den Waschbecken befinden. Mir ist klar, dass ich es eigentlich nicht tun sollte und trotzdem verselbstständigen sich meine Finger und öffnen die weiße Tür lautlos. In den zwei Regalen liegen ausschließlich Vorräte an Zahnbürsten und -pasten, Duschgelflaschen und Wattestäbchen. Und Kondome. Irgendetwas zieht sich in meiner Magengegend zusammen. Es klopft an der Tür. Fuck. „Moment", ich merke, wie ich panisch klinge. Wieso bin ich überhaupt so nervös? So aufgeschreckt? Ich war bloß im Bad, nichts weiter ... Mit angehaltenem Atem schließe ich die Tür des Schrankes, nichts schleift auf dem Boden. Draußen ist es aber auch still. Ob er oder sie es trotzdem gehört hat? Ich beiße mir auf die Lippen und gehe schnell zur Tür. Viel zu spät bemerke ich, dass ich nur den Hoodie trage, der gerade so den Blick auf meine Unterhose versperrt. Wer kann denn auch ahnen, dass doch jemand wach ist?! Es klopft nochmal. Schnell lasse ich meinen Blick durch den Raum gleiten, aber nirgends wäre ein Handtuch, das nicht benutzt aussieht. Also ziehe ich nur den Saum meines schwarzen Stoffes hinunter und öffne die Tür. Tim starrt mir direkt in die Augen. Mein erster Instinkt ist es, zu schreien. Nur ist das leider kein böser Traum mehr. Er steht wirklich nur in einem zerknitterten T- Shirt und einer weißen Boxershorts vor mir. Den Blick zu senken ist also genauso übel, wie ihm in die Augen zu sehen. „Morgen", ich beiße die Zähne zusammen und ziehe nochmal meinen Hoodie etwas weiter hinunter, sein Blick folgt mir kurz, bis er sich räuspert und mir wieder schnell in die Augen schaut. „Morgen, Feministin", er fährt sich durch die unfrisierten Haare, die wirklich so aussehen, als hätte er sich die ganze Nacht im Kopfkissen gewälzt. Scheiße, ich sollte aufhören, mir ihn im Bett vorzustellen! Egal, ob im Schlaf oder bei – nein, aus! Ich glaube, mir wird schlecht. Doch ich schaue hoffentlich genauso neutral wie die ganze Zeit schon und versuche, diesen stechenden Blick zu ignorieren. „Wegen deinem Shirt", murmelt Tim und klingt unsicher. Gut so. „Also nicht, dass du es sonst nicht gewesen wärst, du ... egal", er schluckt. Mein Blick fällt auf seinen Adamsapfel, den ich gestern nicht sehen konnte. Er ist männlich, sehr männlich. Anders, als ich ihn in Erinnerung hatte. „Ich wollte eigentlich nur ins Bad, weil ich gleich Dienst habe. Sonst hätte ich natürlich das Gäste-WC genommen", mein Ex schaut verlegen, zumindest sehen seine blauen Augen betreten aus. Es kostet mich einiges an Kraft, mich nicht in ihnen zu verlieren. „Hm, natürlich. Sorry, das wusste ich nicht", ich würge die Worte mehr heraus, als sie ernst zu meinen. Um ehrlich zu sein, ist es mir scheißegal, wann er seinen Dienst hat. Genauso sehr, was für einen überhaupt. „Nein nein, ich habe mich gestern Abend nicht deutlich genug ausgedrückt, mein Fehler", er betont das letzte Wort, sodass ich automatisch die Augenbrauen hochziehe. Fehler hat er wohl sehr viele gemacht. Tim senkt den Blick und hebt ihn doch wieder, als ihm klar wird, dass er mir sonst auf die Brust schauen würde, wo mein Shirt spannt, weil ich es so tief gezogen habe. „Ich kann auch einfach mein Zeug rausholen und du bleibst im Bad, ich möchte dich jetzt nicht an deinem ersten Tag hier so doof hinauswerfen", Tim klingt monoton, als hätte er es in der Zeit vor der Tür so einstudiert, ich schüttele den Kopf. „Du musst mir keinen Gefallen tun. Ich werde in das Gästebad gehen", ich straffe meine Schultern und Tim spannt sich ebenso an: „Nein, ich möchte dich echt nicht verjagen, lass mich einfach kurz das Zeug holen." Ich verdrehe die Augen. Er hat mich bereits verjagt. Genervt will ich mich an ihm vorbei schieben und – nein! Ich stoße gegen ihn. So richtig. Es geht so schnell, dass ich gar nicht realisieren kann, was sich hier zur Hölle alles berührt. Als Erstes nehme ich seinen beißenden Geruch von einem männlichen Deo wahr, als ich gegen seinen Hals stoße und beinahe seine Haut mit den Lippen berühre. Ich zucke zurück, doch stolpere nur noch mehr. Ich verliere das Gleichgewicht und kippe nach hinten, Tims Hand schnellt um meinen Rücken und er packt mich fest. Seine Hand auf meinem Rücken brennt sogar durch den Hoodie und die Kapuze hindurch, so unangenehm ist es mir. Genauso sehr, als ich das an unseren Hüften realisiere, könnte ich mich übergeben: Wir stehen dicht aneinander, sodass ich seine Wärme durch den dünnen Stoff seiner Boxershorts spüren kann, als mein Hoodie nach oben rutscht. Scheiße! Und das reicht nicht! Aber er bewegt sich nicht, seine Hüfte drückt weiter gegen mein Becken und gibt ihm einen Blick auf meinen schwarzen Slip, der dicht an seiner Unterhose ist, frei. Ich strampele. Mein Blick schnellt nach oben zu seinen Augen, die mich tief anblicken. Das Blau ist unergründlich, tiefer als ein Meer, eher als wäre man sogar unter dem Meeresgrund, so verwirrend ist es. Er blickt mit direkt an, erblickt direkt meine Se- „Lass das. Und lass mich verdammt nochmal los", ich funkele ihn an, sodass Tims Hände sofort von meinem Rücken verschwinden, als hätte er sich elendlich verbrannt. „Tut mir leid", ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde oder nicht. Selbst wenn, könnte ich nicht sagen, was er meint: das damals, dass er auch losgelaufen ist oder dass er mich angefasst hat. „Mach. Das. Nie. Wieder", zische ich und schiebe mich diesmal wirklich an ihm vorbei, meine Haare schlagen gegen seinen Oberkörper. „Ich hätte mich übrigens von alleine gehalten", ich drehe mich nicht wieder um, sondern verschwinde so schnell es geht um die Ecke. Mit zitterndem Atem lehne ich mich an die Wand und schließe die Augen. Das kann gerade alles nicht passiert sein. Verzerrt höre ich, wie sich die Tür schließt und Sekunden später das Wasser unter Dusche rauscht. Ich entspanne mich etwas. Aber das dringende Bedürfnis, zur Toilette zu gehen, bleibt verschwunden.

HeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt