Kapitel achtundvierzig

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Den Donnerstag haben Tim und ich getrennt voneinander verbracht. Morgens war er nicht da – was hatte ich auch anderes erwartet? Und auch gestern Abend haben wir einander verpasst, weil ich noch bis spätabends mit Sid im Büro war und aufgeräumt habe, Tim aber abends wieder los musste. Es war schon ein Zufall, dass wir uns – oder eher unsere Autos sich – auf der Hauptstraße begegnet sind. Und das war es. Keine Nachricht an den jeweils anderen. Weil ich zu stolz bin und weil er zu ... verletzt ist? Was auch immer er vermutet, dass ich dachte, er wirkt wie vor den Kopf gestoßen. Ich weiß ja nicht einmal, ob er jetzt auch in seinem Zimmer liegt und an die Decke starrt oder ob er gerade im Präsidium ist. Bei seinem Mordfall. Oder Lucy. Wie auch immer. Mürrisch wickele ich mich tiefer in meine warme Bettdecke, die ich am liebsten nicht verlassen würde, weil sie so kuschelig ist und sich wie ein erhitzter Raum anfühlt, der nicht zu der kalten Luft in meinem Zimmer passt. Trotzdem strecke ich meine Hand aus dem Bett und angele am Boden nach meiner Leselampe und dem Taschenbuch, das ich gestern Abend dort liegen gelassen habe. Zu etwas anderem, wie etwa dem Schreiben, bin ich heute Früh nicht mehr fähig, dafür bin ich viel zu aufgeregt. Mein Blut rast förmlich durch meine Adern, sodass ich meine, sie pulsieren zu fühlen. Weil wir heute rüberfahren. Nachsehen, ob es Hinweise gibt, wer mich angerufen hat. Und natürlich weil wir heute Lunas Brautkleid kaufen – oder zumindest sie verschiedene anprobieren möchte. Auch ein verdammt großer Schritt in meinem Leben, wenn meine beste – und einzige, die ich je hatte – Freundin heiratet. Seufzend schalte ich meine Lampe an und befestige sie an dem Softcover des Buches, dann schlage ich es auf. Tims leise Stimme unterbricht mich bereits beim ersten Satz. Ich halte Inne und drücke die Buchseite fester zwischen meinem Daumen und Zeigefinger. Eigentlich will ich nicht lauschen, aber genauso wenig kann ich es nicht nicht tun. Es ist unmoralisch, kindisch und vertrauensbrechend, dass ich mein Buch lautlos zuklappe und auf meiner Bettdecke liegen lasse, um letztendlich doch aus dem Bett zu klettern. Möglichst leise setze ich meine nackten Füße auf den Boden und pirsche zur Tür, die – im selben Moment betritt Tim den Flur, noch gerade, bevor ich die Türklinke nach unten drücken kann, höre ich es. Verdammt. Fehlalarm, wenn er wirklich im Flur telefoniert, wo wir es alle drei hören könnten. Tue ich im Übrigen auch. „Ja, ja, ich weiß, Lucy", brummt er auch nur, während er weggeht, vermutlich in die Küche. Was wiederum heißt, dass er gleich los muss und sich aller Wahrscheinlichkeit noch einen Kaffee macht. Okay. Oder eher nicht okay, eigentlich sollte ich mich schämen. Dass ich sogar morgens aus dem Bett springe, weil ich meinen Freund telefonieren höre. Dabei will ich nicht eine dieser Partnerinnen werden, die so eine Kontrollsucht hat. Ich brauche meinen Freiraum, er braucht seinen. Ganz einfach. Also sollte ich mich frisch machen und umziehen – und falls noch Zeit ist, in die Küche zu Tim gehen und ihm endlich von dem Anruf vorgestern erzählen und, dass ich später mit Luna rüberfahren werde.

Keine zwanzig Minuten später schiebe ich mir mein Smartphone in die Hintertasche meiner zerrissenen Jeans und zupft die Kapuze meines Hoodies zurecht, als ich das Gästebad verlasse und über den sonnendurchfluteten Flur schlendere. „... das ist Jahre her, Lucy", schnaubt Tim gerade. Er ist noch da. Grinsend greife ich nach der lauwarmen Türklinke und öffne die Küchentür: Tim lehnt mit der Hüfte an der Arbeitsplatte, den Hörer fest ans Ohr gepresst und den Blick stur nach draußen auf die Straße gerichtet. Seine Haare glänzen im Sonnenlicht, seine Augen glitzern von der Seite, aber er nimmt mich nicht wahr. „Das wird sicher trotzdem gehen", fährt er fort, angespannt fährt er sich mit der linken Hand durch die Haare, „ja, nein, auf gar keinen Fall! Ich sage es ihr, nicht du." Was? Mir? Einer Zeugin? Dem Opfer? Der Angeklagten? „Verdammt, dann halte Miguel davon ab, es auszuplaudern; er hätte es nicht einmal wissen müssen. Ich muss zuerst mit ihr sprechen, okay?", bei Tims Worten spannt sich alles in mir an; meine Eingeweide ziehen sich schmerzhaft zusammen. „Richtig. Unser Geheimnis. Bis ich mit ihr gesprochen habe", bestätigt Tim etwas, er amtet erleichtert aus. Und registriert mich immer noch nicht. Mit zusammengekniffenen Augen beobachte ich ihn, wie er wieder seine Oberarme anspannt, seine Hand zu einer Faust ballt und sich dann nervös über die Brust fährt, wo ich den Ring unter seinem Shirt zu erahnen meine. „Wir warten noch ab ... Erst wenn wir das Ergebnis vom Vaterschaftstest haben", Tim dreht sich ein wenig, „dann sage ich es Em-" Er hält inne, als sein Blick meinem begegnet. Purer Schock, pure Angst und purer Scham stehen in seinen Augen, die nach meinen suchen und versuchen irgendwo Halt zu finden, aber ich stolpere zurück. Alles in mir schreit danach wegzurennen, doch dennoch brauche ich eine Sekunde, bis ich es schaffe, meine Füße anzuheben. „Em!", Tim lässt sein Handy über die Küchenleiste schlittern, ohne irgendeinen Knopf zu drücken – keine Ahnung, ob Lucy auch da in unserer Beziehung dabei ist. Wie sonst auch. Wie sie ihn wohl auch angefasst haben muss. Wie sie ihn auch kennen muss – oder nicht? Bitter schlucke ich meine Verletzung hinunter und stolpere ein paar Schritte zurück, meine Hand scheuert schmerzhaft an der Wand entlang, als ich mich umdrehe. „Em, warte! Lass es mich erklären!", Tim stürzt mir hinterher, für eine zu lange Millisekunde streifen seine Finger meine Hüfte, dann schaffe ich es, ihm auszuweichen und mich an die Wand zu pressen. „Fass mich nicht an!", ich schlage seinen Arm weg, der sich mir sanft nähert. „Okay, fuck, es tut mir leid. Ich wollte nicht ... bitte hör mir zu, Em, es ist nicht so, wie du denkst", Tim schluckt und schließt gequält die Augen, fast könnte ich mit ihm Mitleid empfinden. Fast. Aber letztendlich hat er mich doch nur wieder enttäuscht. Wie er es damals getan hat. Und ich war so dumm und bin ein zweites Mal auf ihn reingefallen – aber warum fühlt es sich dann so an, als wäre es nicht so? Bin ich noch so traumatisiert? Geschockt? Überrumpelt? Bestätigt, dass ich recht hatte? „Em ...", er öffnet leidend die Augen, aus den Tränen hinauslaufen. Wieso weine ich nicht? „Bitte", vorsichtig, als müsste er für uns beide eine Grenze überschreiten, nähert er sich mir. Doch ich presse mich nur fester an die Wand, deren spröde, bröckelnde Fassade sich durch die Kapuze hindurch an meinen Rücken schmiegt. „Emma", verbessere ich ihn. Verdammt, mein Hals beginnt zu brennen. Nicht meine Augen. Als hätte ich ihn mit einem Faustschlag getroffen, weicht Tim zurück und fährt sich über das Gesicht, über dem Schatten liegen. „Geh! Geh wieder in die Küche und telefoniere mit ihr, na los. Lass mich einfach gehen", bringe ich die Kraft auf und schaffe es, meine Augen zusammenzukneifen. Heute muss ich stärker sein als vor elf Jahren. Heute werde ich nicht wieder heulend vor ihm zusammenbrechen. „Was ist hier los, verdammte Scheiße?", die Tür neben Tim wird aufgerissen und Maik erscheint in zerknitterten Boxershorts im Türrahmen. Seine braunen Augen huschen voller Mitleid zwischen Tim und mir hin und her, als könnte er sich nicht entscheiden, mit wem er mitfühlen soll. Wie er es damals auch nicht konnte. „Tim erzählt es dir sicher gerne", ich nutze die erste Gelegenheit, abzuhauen. In dem Augenblick, den Maik mich aus den Augen lässt und seinen besten Freund perplex ansieht, löse ich mich aus meiner Starre an der Wand und rase in mein Zimmer. Mit zitternden Fingern sperre ich die Tür ab, um meine wichtigsten Sachen zusammenzusuchen: meinen Laptop, meine Blöcke mit meinen Gedanken und den Brief meiner Mutter. Hastig hänge ich mir die gefüllte Tasche über und stülpe den Gurt über meinen Kopf, als ich an etwas hängen bleibe: Der Lederfaden meiner Kette verheddert sich mit dem Verschluss des Bandes der Tasche. Fluchend reiße ich daran, bis meine Haut im Nacken schmerzhaft brennt und ich dieses beschissene Band von meinem Hals ziehen kann. Hinten am Knoten hat sich alles aufgelöst, aufgescheuert und ist ein wenig gerissen, als ich in den Händen halte. Eilig ziehe ich den Rest der Kette aus meinem Ausschnitt und umklammere das schwarze Band. Einsam baumelt der Ring daran, für eine Sekunde meine ich Nicole darin zu sehen. „Em!", Tim schlägt mit der flachen Hand gegen meine Tür. Ich zucke zusammen, sodass mir die Fäden aus den Händen gleiten, mit einem leisen Klimpern fällt der Ring zu Boden; er dreht sich noch einmal um seine eigene Achse, ehe er zu Boden fällt. So leise. Und doch so laut, dass Tim es auf der anderen Seite hören muss. Ich höre ihn keuchen, höre, wie er seinen Kopf gegen das Holz schlägt und auf der anderen Türseite wartet. „Das bringt doch nichts, komm von der Tür weg, Mann. Damals hat es euch kaputtgemacht durch eine Tür zu sprechen, Tim, also ...", höre ich Maiks aufgebrachte Stimme, die sich in ein Flüstern verwandelt. Irgendetwas zischt er seinem besten Freund noch ins Ohr, direkt vor meiner Zimmertür, dann höre ich dieses Klopfen, als würde einer dem anderen auf den Rücken schlagen. Gut so. Dann ist er so beschäftigt, mich nicht aufhalten zu können. Entschlossen drehe ich den Schlüssel im Schloss wieder um und reiße ohne Umschweife die Tür auf, um an den beiden Männern vorbeizustürmen. Ein Teil von mir will sich umdrehen, will Tim anschauen und daran glauben, dass ich nicht so dumm war; aber der größere Teil siegt. Also presse ich meine Tasche an mich und haste in den Flur, reiße meine Lederjacke wahllos vom Kleiderhaken und klaube die ersten Chucks vom Boden auf, um sie mit in den Hausflur zu nehmen und dort anzuziehen. Nur um Tim hinter mir zu lassen.

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