Kapitel achtzehn

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Mürrisch starre ich meine Reportage auf dem Bildschirm meines Laptops an. Zwar habe ich ja die perfekte Idee gehabt, als ich mit Lucy gesprochen habe, aber jetzt mangelt es an den Worten. Mindestens die Hälfte der Worte, die schwarz auf weiß dort stehen, ist austauschbar. Mein Gespür für Sprache, Worte und Buchstaben ist nicht da, egal wie tief ich in mich horche. Mir ist klar, dass es daran liegt, was heute Morgen passiert ist. Ich habe wirklich Tim geküsst. Nachdem ich mir damals geschworen habe, mich niemals wieder auf ihn einzulassen, ihm niemals wieder eine Chance zu geben, ihm niemals wieder nahe zu kommen. Damals hat er mich angeekelt, war er abstoßend, obwohl ich ihn geliebt habe. Und heute ist er ... attraktiv. Ich kann nicht einmal sagen, warum er heute etwas Faszinierendes hat, aber da ist etwas, das mich catcht. Und obwohl es nichts gibt, das ich konkret an ihm benennen kann, das mich anzieht, gibt es auch nichts, was mich nicht anzieht. Dieser Mann hat es wieder geschafft, dass ich ihn küssen möchte, dass ich ihn spüren wollte und dass ich mein Gesicht in seinem Shirt vergraben wollte. Nur kann ich das nicht, ich kann doch nicht dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Er bleibt immer dieser Kerl, der damals mit einem anderen Mädchen geschlafen hat, derjenige, der nicht gewartet hat, bis wir unser erstes Mal gemeinsam miteinander haben würden. Wie kam ich bloß auf die Idee, ihn überhaupt zu küssen?! Aber insgeheim weiß ich, wie sich das ergeben hat. Ich habe, wenn ich ehrlich bin, nie aufgehört ihn zu lieben. Schnaubend lösche ich wieder die Zeilen, die ich geschrieben habe und stütze den Kopf in die Hände. Ich werde eine Möglichkeit finden müssen, Tim aus dem Weg zu gehen. „Alles okay?", Sid lehnt sich in meinen Türrahmen und steckt die Hände in die breiten Hosentaschen seiner Latzhose. „Hmhm, danke", brumme ich und bin kurz davor, ihn mit meinem Notizheft abzuwerfen oder ihn rauszuwerfen. „Du siehst nicht so aus. Aber weißt du was, ich kann dir die Kantine hier zeigen", Sid grinst übertrieben anzüglich, was mich die Augenbrauen hochziehen lässt. „Nein, danke, wirklich nicht", seufze ich, die Finger auf dem Schreibtisch tippelnd. „Na gut, dann bringe ich dir selber etwas mit", Sid zuckt mit den Schultern und trottet los, wobei seine blaue Hose an den Beinen scheuert und den ganzen Gang entlang zu hören ist. Seine aufdringliche Art nervt mich, und doch entspannt es mich etwas, dass ich mich mit etwas anderem befassen kann. Mich über Sid aufzuregen, macht fast ein wenig Spaß und lenkt mich davon ab, über Tim nachzudenken oder diesen doofen Artikel über seine Kollegin zu schreiben.

Lustlos starre ich noch eine Weile den leeren Gang an, bis die ganzen Glastüren vor meinem inneren Auge sich vermischen und verschwimmen, bis ich nur noch einen grauen Flur sehe. Einen Flur, den ich vermutlich die nächsten Tage ziemlich oft sehen werde, wenn ich hier so lange bleibe wie heute. Ein Blick auf die Uhrzeit rechts unten an meinem Laptop sagt mir, dass ich mich freuen sollte, falls Sid mir wirklich etwas zu essen mitbringt. Schließlich ist es bereits nach halb neun Uhr abends und die Stadt hat sich verdunkelt, ohne dass ich es bemerkt habe. Deprimiert drehe ich mich auf meinem Schreibtischstuhl umher und lasse meinen Blick von den hell erleuchteten Schlossarkaden vor meinem Fenster über mein Blätterchaos am Boden zu der kahlen Wand rechts von mir wandern, ebenso über meinen chaotischen Schreibtisch mit den zerbrochenen Bleistiften und dem leeren Gang, auf dem von Sid nichts mehr zu sehen ist; geschweige denn von meinen Kolleginnen. Die Einzige, die noch mit mir im Haus sein sollte, ist meine Chefin Frau Maybach, neben der ich auch mein Büro habe. Umso mehr reiße ich mich zusammen, nicht einfach mal loszuschreien oder aggressiv meine Sachen auf den Boden zu werfen, damit sie ihre Entscheidung nicht bereut. Oder die anderen Redakteurinnen mich noch schräger ansehen werden, falls doch noch eine da ist. Und das frustriert mich, weil ich immer noch auf mich alleine gestellt bin. Ich liebe es eigentlich, eine Einzelkämpferin zu sein, aber gerade jetzt bräuchte ich einfach meine Mutter, an die ich mich lehnen kann, oder eine Freundin, der ich das Desaster mit Tim erzählen kann. Eine Freundin. Schnell rolle ich mit meinem Stuhl zu meiner Tasche, die ich wütend auf mich selbst ins Eck geworfen habe und angele mein Smartphone hinaus. Noch ein Sprung im Display mehr. Seufzend entsperre ich meinen Bildschirm und rufe den Chat mit Luna auf. Sie hat mir bereits etliche Nachrichten geschrieben, wo ich denn sei, dass sie sich Sorgen mache und sie hat mich gefragt, ob ich ihr nicht doch beim Packen helfen könne. Lächelnd tippe ich eine Antwort ein und füge noch extra einen Emoji hinzu, damit sie weniger skeptisch ist. Keine vier Minuten später klingelt mein Handy: Luna. Zähneknirschend nehme ich den Anruf an und stelle ihn auf Lautsprecher, während ich zur Tür rolle und die Glastür ins Schloss fallen lasse. „Ja?", rufe ich, während es gerade klickt. „Puh, ich dachte schon, du gehst gar nicht mehr dran", Luna schüttelt förmlich den Kopf, jedenfalls kann ich mir das bei ihrem Tonfall lebhaft vorstellen. „Wie du siehst schon. Was gibt es denn?", ich versuche möglichst normal und beiläufig zu klingen, was mir irgendwie nicht ganz gelingt. „Wissen, warum die Männer so geheimnisvoll tun. Tim war heute Morgen komplett fertig mit den Nerven und jetzt sind die beiden im Wohnzimmer und führen ein Männergespräch", Luna seufzt theatralisch, ein wenig muss ich lachen: „Männergespräch, aha." „Im Ernst, die beiden wollen es mir nicht sagen. Tim meinte, ich müsste dich selber fragen, was los ist. Ist er dir doof gekommen? Aber das kann ich mir gar nicht vorstellen, wo er dich so liebt ...", Luna stockt in ihrem Redefluss, als ich im Hintergrund höre, wie ihr Bücher runterfallen. Vermutlich dekoriert sie wieder ihr Regal mit zweihundert Romanen um wie sie es früher immer getan hat. „Was? Hat er das gesagt oder was?", sofort setze ich mich aufrecht hin, mein Herz pocht stark. Mir war klar, dass da etwas von ihm ausgeht, nachdem er sich vor mir entblößt hat, aber das ausgesprochen zu hören, ist nochmal etwas anderes. Denn egal, was Tim mir damals angetan hat, fühle ich mich schlecht, in sein Leben und seine Wohnung eingedrungen zu sein, ihn geküsst zu haben und ihn dann stehen zu lassen. „Na ja, seit du hier bist haben wir nicht mehr darüber gesprochen. Hätte ja auch keinen Sinn ergeben, ich möchte dir zu Seite stehen und nicht Tim, okay?", Luna stellt lautstark eine Buchreihe in ein Fach. „Okay", wiederhole ich, auch wenn ich nicht weiß, ob es das ist. „Also, magst du mit mir darüber sprechen? Ich werde übrigens nicht zulassen, dass du heute nicht nach Hause kommst oder so", Luna klingt streng wie sie es sicher beabsichtigt hat. Seufzend drehe ich mich auf meinem Stuhl umher und betrachte die Wand, an der ich immer vorbei routiere. „Keine Sorge, ich sitze wirklich noch an meiner Reportage. Ich komme einfach nicht weiter, weißt du, die Worte sind noch nicht die richtigen", murmele ich in die Luft, doch Luna scheint es am anderen Ende zu vernehmen. „Hm. Also wenn du jemanden zum Drüberlesen brauchst, kannst du es mir gerne schicken; ich bin sicher, dass ich es auch so richtig gut finden werde", sagt sie dann nach einer Weile Schweigen optimistisch, ich seufze. „Vielleicht, danke. Aber ich werde das schon schaffen, ich stürze mich am besten jede Sekunde in Arbeit, dann klappt das", mit einem aufgesetzten Lächeln betrachte ich mich in dem spiegelnden Fenster. „Ich hätte eigentlich gerne noch Zeit mit dir verbracht, bevor Maik und ich übermorgen fahren!", Luna lacht und ich schüttele instinktiv den Kopf, auch wenn sie es nicht sehen kann. Shit. Ab Sonntagabend sind die beiden weg. Dann bin ich verdammt nochmal alleine mit Tim in der Wohnung. „Du sagst nichts. Sollen wir doch nicht fahren?", Lunas besorgte Stimme lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ihr den Urlaub vermiesen, in dem ich vermute, dass Maik ihr einen Antrag machen wird, werde ich definitiv nicht; es reicht schon, dass ich so lange das Gästezimmer für mich beanspruche. „Nein! Ihr solltet fahren, das wird ein genialer Urlaub, bestimmt", schnell richte ich mich auf und rolle zu meinem Handy, als könnte ich dadurch aufrichtiger klingen. „Sicher?", Luna scheint auch näher an ihr Handy zu rücken. Minimal lächelnd nicke ich: „Klar." „Kann ich dir etwas sagen, oder willst du weiterarbeiten?", fragt Luna und kichert ein wenig. „Schieß los, du hast mich eh schon rausgebracht", seufze ich, sofort lacht Luna am anderen Ende. „Okay. Also ... ich habe mich gefragt, also ich weiß nicht, ich habe ganz kurz darüber nachgedacht, ob Maik mir nicht vielleicht ... du weißt schon", Luna flüstert, als könnten Maik und Tim sie hören, obwohl die beiden um die vier Zimmer weiter sitzen müssten. „Einen Antrag machen wird?", frage ich und muss tatsächlich grinsen. „Ja? Und weißt du, ich habe mir gedacht, wenn er mir keinen macht, mache ich ihm einen", Luna klingt stolz und ich grinse dieses Mal richtig. „Was sagst du?", fragt sie leise und ich könnte sie schütteln, dass sie das überhaupt fragt. „Das ist genial, Luna. Und ich freue mich, dass du so eine emanzipierte junge Frau bist, die das selber in die Hand nehmen wird", antworte ich ihr ehrlich. Es gibt nichts, was mich stolzer machen könnte. Natürlich mache ich mir insgeheim schon Gedanken, was passieren wird, wenn Luna und Maik sich wirklich verloben, aber das werde ich ihr sicher nicht unter die Nase reiben. „Oh ja, du sagst es. Ich meine, es ist total bescheuert, dass der Mann den Antrag machen muss! Wie klischeehaft und was für ein doofes Rollenbild!", Luna lacht und ich stimme ein wenig mit ein. Über so etwas mit Luna zu reden, tut mir gut. Es stimmt mich positiv, weil es sich ein wenig anfühlt wie früher, als wir die ganzen feministischen Bücher ausdisktuiert haben und uns über schwache Protagonistinnen aufgeregt haben. Nur dass Luna diesmal real so stark ist und diesen Schritt wagen möchte. „Und, hast du schon einen Plan?", frage ich und schnappe mir mein Handy, um es mir in den Schoß zu werfen. „Nein, ich möchte es dem Moment überlassen. Aber auf jeden Fall etwas Natürliches, ganz Alltägliches. Wenn so etwas öffentlich ist, kriege ich immer Aggressionen", schimpft sie, ich stimme ihr grummelnd zu. So geht es noch eine ganze Weile lang, dass Luna mir erzählt, was ihr vorschwebt und das Ganze doch wieder relativiert, weil sie sich aufregt. Schmunzelnd höre ich ihr zu und gebe ein paar Mal meine Kommentare ab, bis sie abrupt das Thema wechselt. „Oh, im Wohnzimmer tut sich etwas", sagt sie vermeintlich gelangweilt, als ich es auch entfernt scheppern höre. „Und?", frage ich und merke, wie sich mein Puls beschleunigt, sobald ich an Tim denke. „Letzte Chance, mir zu sagen, was passiert ist. Ich möchte dich auf keinen Fall drängen, Emma, aber ... ich habe einfach das Gefühl, dass du reden möchtest. Sag es mir ruhig, wenn ich mich täusche", Lunas Stimme hört sich sanft und einfühlsam wie immer an, sodass es mir richtig schwer fällt, eine klare Entscheidung zu treffen. „Ich ... ich habe ihn geküsst", flüstere ich in die Stille und schließe die Augen. Sofort kann ich wieder Tims Lippen auf meinen fühlen und meine, seinen Geruch in der Nase zu haben. „Wen? Tim?", Luna flüstert zurück. „Kann sein", schluckend versuche ich das Gefühl, das sich in meiner Brust breit macht, loszuwerden. „Bereust du es?", fragt Luna nach einer Weile, die Besorgnis in ihrer Stimme kann ich deutlich heraushören. „Im Grunde schon", flüstere ich. Augenblicklich wird mir ganz kalt, wie ein Schauer läuft es mir den Rücken kalt hinunter. „Und nicht im Grunde? Hast du etwas empfunden?", wispert Luna und hält die Luft an, ich ebenso. „Also schon", flüstert sie, als ich schweigend auf die Glastür starre, die ein paar feine Risse aufweist, die man gar nicht sehen kann, wenn man nicht genau hinschaut. „Ich kann das nicht", erwidere ich, die Lippen zusammengepresst. „Was genau?", fragt Luna, als ich einen Schatten auf dem Gang erblicke. „Sorry, ich muss aufhören, Sid ist da", rufe ich, dann lege ich schon schnell auf. Kurz wird mir angezeigt, dass Luna und ich über eine Dreiviertelstunde telefoniert haben, dann hebe ich den Kopf, als Sid mit zwei Tabletts an der Tür herumhantiert. Seufzend mache ich auf und nehme ihm das ab, auf dem weniger Sonstwas auf dem Teller ist. „Danke, aber das wäre nicht nötig gewesen", murmele ich, als ich versuche, auszumachen, was das Grüne ist. „Oh doch, ich wollte mich entschuldigen. Ich meine, ich bin ein Idiot, aber ich denke, an deinem ersten Tag habe ich es echt übertrieben", erklärt Sid und lächelt mich an, ich nicke wissend: „Jap." „Gibst du mir noch eine Chance?", fragt er und seine bernsteinfarbenen Augen wirken auf einmal um einiges netter. Bei ihm fällt es mir so leicht zu antworten: „Na gut." Zufrieden setzt sich Sid mir gegenüber auf den Tisch und löffelt das Essen von seinem Teller, ich probiere zaghaft den Brei, der vor mir steht. Kaum schmecke ich das Püree in meinem Mund, huste ich und schaue zu Sid, der lacht. Eigentlich wirkt er ganz in Ordnung. Vielleicht ist er ein bisschen naiv und doof, die Rolle, die ihm Frau Maybach zugeschrieben hat, so zu spielen und womöglich ist er auch nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber er kann nett sein, besonders, wenn man es braucht. Und das reicht mir erst einmal, ihn als meinen Lieblingskollegen der ersten Woche einzustufen.

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