Und so machen wir es den ganzen Donnerstag und den ganzen Freitag lang: Nachts schlafe ich bei Tim am Bett und halte seine Hand bis er einschläft. Dann, morgens um sechs Uhr stehen wir gemeinsam auf und ich helfe ihm, ins Bad zu gelangen, wo wir uns gleichzeitig frischmachen, zumindest was das Zähneputzen und Haarebürsten angeht, genauso wie ich ihm beim Anziehen helfe. Es spielt sich gut ein, dass er die Arme hebt, ich ihm das Shirt über den dicken Verband ziehe und ich den Gürtel seiner Jeans verschließe. So kann er sich auf das gemachte Bett setzen und liest seine Krimis oder beobachtet mich, wie ich an seinem Schreibtisch sitze und schreibe. Genau wie jetzt. „Warum schaust du so?", frage ich, ohne von meinem Laptop aufzusehen. Dabei spüre ich doch ganz genau, wie Tims Blicke auf meiner Kopfhaut ein Prickeln auslösen und meine Finger immer schneller über die Tasten fliegen lassen. „Ich ... ich sehe dich gerne an", antwortet Tim, wir halten beide Inne. „Wie ich arbeite?", nervös drehe ich mich zu ihm, wobei ich mir unbewusst eine Haarsträhne hinter das Ohr streiche. „Nein, wie du deiner Leidenschaft nachgehst", Tims Stimme wirkt dunkler, oder bilde ich mir das ein? Jedenfalls verdunkelt sich sein Blick auch, etwas Nachdenkliches liegt in dem Blau. „Dabei schreibe ich gar nicht an meiner Story – du wirst es nicht glauben, aber da strahle ich noch mehr", grinse ich und werfe einen Blick auf den Bildschirm. Gleich habe ich das Ende der Seite erreicht, also auch gleich die Extraarbeit beendet. Die Reportage habe ich sogar gestern schon abgeben können, so perfekt lief das Homeoffice mit Tim. Um ehrlich zu sein hätte ich nicht erwartet, dass ich sogar besser schreiben kann, wenn er mit mir in einem Raum sitzt. „Das würde ich gerne sehen", Tim lächelt mich vorsichtig an, seine Lippen zucken fast zeitgleich nach oben und nach unten. „Nope, ich bin dann für heute fertig. Und am Wochenende bin ich bekanntlich durch mit der Arbeit", seufze ich erleichtert. Ich liebe es zwar zu schreiben, aber das war eine unendlich harte Woche. „Ich wünschte, ich hätte wieder Arbeit", seufzt Tim ebenfalls, stutzig mustere ich ihn. „Ich hätte nicht gedacht, dass du für deinen Job brennst. Ich meine, klar, du liebst deinen Beruf und rettest gerne Leben und ermittelst, aber ... warum bist du nicht froh, mal aus der Schusslinie zu sein? Das letzte Mal ging schon schlimm genug für dich aus", ich nicke auf die Wunde, auf die deutlich der weiße Verband mit dem braunen Tape, das man durch Tims weißes Shirt sehen kann, hinweist. Tim mir gegenüber schluckt laut und stürzt die Lippen. „Ich weiß, was du meinst. Aber ich fühle mich einfach mies, wenn ich nichts Gutes tun kann. Ich will Leute retten, ich will Täter finden und zum vollen Strafmaß ausliefern. Wenn ich daran denke, dass gerade wieder jemand erschossen da draußen herumliegt, und sich meine Kollegen alleine darum kümmern ...", Tim schließt die Augen, ziemlich fest, sodass es fast mehr ein verkrampftes Zusammenkneifen ist. „Siehst du in jeder der Leichen deine Mutter?", flüstere ich, als es mir einen kalten Schauer den Rücken hinunter jagt. „Ja", kraftlos lässt Tim sich nach hinten in die Kissen sinken, ich klappe meinen Laptop mit einer einfachen Bewegung zu. „Ich hab sie damals sehen dürfen in der Pathologie", spricht Tim leise weiter. „Magst du darüber reden?", wispere ich und kralle meine Finger in die Schreibtischkante. „Du kannst kein Blut, keine Leichen und sonstetwas sehen", entgegnet Tim, ich beiße mir auf die Lippen. Das stimmt allerdings, und immer wenn in einem Film Blut zu sehen ist, wird mir schon leicht schwindelig. Im Film! Nur ist das hier kein verdammter Film, sondern Tims Alltag. „Aber ich kann gut zuhören, manchmal auch besser als reden", zögerlich stehe ich von dem Stuhl auf und steige über meine Matratze hinweg zu Tim aufs Bett. Vorsichtig setze ich mich angezogenen Beinen auf sein Bettlaken, an dem etwas von seinem Blut klebt. Schnell wende ich den Blick ab, bevor ich mich übergeben muss und schaue zu Tim, der die Decke anstarrt. Als er bemerkt, dass ich ihn anschaue, wandert sein Blick zu mir. Leer schaut er mich an, seine Hände halten sich an seinem Shirt fest. „Sie lag da einfach. Aber sie war nicht mehr sie, es war wie eine tote, abgenutzte Hülle, von der ich mich verabschieden sollte. Ihr Haar war nicht mehr wie das meiner Mum, da lag eine Fremde. Mit leblosen Haaren, die nicht wie immer in einer Igelfrisur abstanden. Genau wie ihre Lippen, das Lächeln war nicht da, ich habe sie zum ersten Mal verkrampf gesehen. Ich habe an ihrem toten Gesicht gesehen, wie lange sie da hat leiden müssen. Wie die Schweine sie haben bluten lassen und wie sie nie wieder ihre Nase kräuseln wird und wie sie nie wieder ihre Augen öffnen wird, um mir zuzuzwinkern ...", Tim kneift seine eigenen Augen zusammen, zum Glück. Dadurch, dass die beiden nahezu dieselben hatten, sehe ich ein Stück weit Nicole vor mir, so wie Tim sie mir beschrieben hat. Diesmal läuft mir auch eine Träne die Wange hinunter. Es schmeckt salzig und bitter, als der Tropfen über meine Lippen rinnt. „Ich habe mich damals nicht getraut, den Rest des Tuches anzuheben", Tim schluckt wieder. „Was redest du denn da? Das hat doch nichts mit Mut zu tun, du warst genau gleich stark, ob du das Tuch angehoben hast oder nicht", protestiere ich leise, obwohl ich mich eher hicksend anhören muss, so wie ich schniefe. „Aber ich wäre vorbereitet gewesen", murmelt Tim und wischt sich über die Augenwinkel, ich greife nach seiner Hand, als er sie zurücklegen will. Warm schließen sich seine Finger um meine, genau so wie vor drei Tagen, als das Rettungsteam ihn hierher gebracht hat. „Wofür? Für die Bundeswehr? Deinen Job jetzt?", erwidere ich in dem gleichen leisen Ton, der fast in der Stille untergeht. „Nein, ich war derjenige, der meinen Vater tot gefunden hat", antwortet Tim mir mit ausdrucksloser Stimme. Wie oft er das jemandem erzählt haben muss, wie abgebrüht er ist, was jedenfalls das das Aussprechen angeht. „Komm her", behutsam ziehe ich an seiner Hand, als Zeichen, dass er sich erheben soll. Mechanisch setzt Tim sich auf und legt seinen Kopf wortlos auf meine Schulter, meine Hände schieben sich um seine Schulter. Dann nuschelt Tim weiter, vergräbt sein Gesicht in meinem Hoodie und meinen Haaren, als er stockend erzählt, wie sein Vater dagelegen hat. Das zu hören reißt lauter Löcher in mein Herz, wie kleine Fasern, die immer weiter aufreißen wie ausgetrockneter Boden.
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Hey
RomanceTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...