Kapitel fünfundvierzig

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Seit wir den Neujahrscountdown zu viert runtergezählt haben, bin ich nervös. Verdammt nervös, sodass mir beinahe die Schlüssel runterfallen, als ich die Türen des Verlags aufsperre. Mir weht der Geruch von Tannennadeln in die Nase, als ich vorsichtig über die vielen Becher am Boden hinwegsteige. Mit gerunzelter Stirn sehe ich mich um und mustere die Wände, an denen noch Konfetti klebt, ebenso der ganze Boden ist überstreut von Deko, Geschenken und Nadeln. Ich seufze. Genervt kicke ich das Zeug bei Seite und presse meine Tasche näher an mich, um mich an dem Chaos vorbei nach hinten zu quetschen. Zuerst komme ich an den offenen Büros vorbei, was fast gespenstisch aussieht: Überall springen mir die schwarzen Monitore ins Gesicht. Jeder dieser Arbeitsplätze liegt verlassen vor mir. Aber in weniger als einer Stunde werden meine ganzen – meine! – Angestellten hier sein. „Emma?", bei der dunklen Stimme fahre ich herum und stoße fast mit Sid zusammen. Sein warmes Lächeln mustert mich, auch wenn ich es bei dem dichten Bartwuchs kaum erkennen kann. „Sid!", ich grinse erleichtert, „frohes neues Jahr! Wieso hast du eigentlich nicht auf meine Nachrichten geantwortet?" „Tja, frag das meine Freundin, sie war so überfordert mit ihrer Schwangerschaft, dass sie mein Handy die Toilette runtergespült hat", lacht Sid, was ihm gut steht. Er sieht glücklich aus, sehr glücklich. „Du wirkst weniger aufgeregt", stellt Sid fest, als er mein grinsendes Gesicht mustert. Sofort verkrampfen sich meine Mundwinkel wieder und das Atmen fällt mir schwer. „Jetzt nicht mehr. Ich weiß einfach nicht, ob ich das alles hier ...", deute ich an und nicke auf die ausgestorbenen Arbeitsplätze mit den toten Computern und leeren Schreibtischen. „Klar, das kriegst du hin. Wenn nicht beförderst du mich einfach zum Manager oder so ...", mein engster Vertrauter in diesem Verlag hier stößt mich in die Seite und grinst breit; mir schlägt sein Atem entgegen, der nach einem guten Frühstück wie Kaffee und Semmel riecht. Unmerklich knurrt mir jetzt auch noch der Magen. Anscheinend bin ich echt die Einzige, die so einen beschissenen Morgen hatte. Angefangen damit, dass wir alle heute Nacht um vier Uhr geweckt wurden, weil Tim seinen Anruf verpasst hatte und Lucy ihn schließlich selbst abgeholt und wortwörtlich aus dem Bett geklingelt hat. Und als ich dann irgendwann wieder aufgewacht und ins Bad getigert bin, ist mir das Sieb vom Wasserhahn entgegen gekommen, sodass ich förmlich geduscht habe. Nachdem ich angezogen war. Danach war ich so beschäftigt damit, alles zu trocken, dass es nicht einmal mehr für einen Joghurt gereicht hätte. „Hm, vielleicht", brumme ich auch nur abwesend und stolpere noch fast über den umgekippten Mülleimer. Dieses verdammte Chaos ist noch vor dem Weihnachtsurlaub ausgebrochen: Als wir alle gemeinsam auf Weihnachten und die freien Tage angestoßen haben, dann noch Frau Maybach in die Rente verabschiedet und mich mehr oder weniger begrüßt haben. Obwohl ich genauso gut sagen könnte, dass es ein schrecklicher Abend war, an dem die meisten Frauen mich missbilligend und eifersüchtig angestarrt haben, als würden sie mir gleich die Augen auskratzen. Nur die wenigsten waren bereits nett zu mir – womöglich haben die schon verstanden, dass ich ab heute ihre Chefin bin. Das Einzige, was Frau Maybach noch zu treffen  hat, sind monetäre Entscheidungen. Schließlich gehört der Verlag noch immer ihr, ich leite ihn nur in ihrem Sinne und Namen. Vorausgesetzt ich kann das überhaupt. „Na komm, wir bringen erst mal den Rest deines alten Büros in ihr altes und dann sehen wir weiter", hört Sid nicht auf, mich aufzumuntern und platziert seine Hand beruhigend auf meinem Rücken, ehe er mich über den Gang in die Richtung der verglasten Zimmer schiebt. Langsam kann ich mich beruhigen. Zwar klopft mein Herz noch immer verrückt und ich habe das Gefühl, dass meine Adern gleich alle aufplatzen, aber ich schaffe es, tief durchzuatmen und mein Zeug zu nehmen. Gemeinsam mit Sid gelingt es mir wirklich, meine Sachen einigermaßen schnell nach drüben in Frau Maybachs Büro zu tragen. Viel ist es sowieso nicht, denn sie hat sich gewünscht, dass ich ihr Mobiliar übernehmen würde. Bleiben also nur mein PC, mein Ablagekorb und ein paar Ordner sowie zwei Bilderrahmen. Auf dem einen strahlen meine Mutter und ich in die Kamera, beide Gesichter grinsen mich frech an. Auf dem anderen sind wir zu viert zu sehen: meine WG und ich. Es ist ein total unscharfes Selfie, das wir auf der Rückfahrt von Hannover vor ein paar Wochen aufgenommen haben – aber wir sind alle vier sehr glücklich. Wehmütig streiche ich über den schwarzen Rahmen, der das Bild von meiner Mutter und mir ziert, dann stelle ich es schweren Herzens wieder neben dem Laptop ab. Im Augenwinkel sehe ich, wie Sid mich schweigend beobachtet und dann aufmunternd lächelnd aus dem Zimmer stapft, um noch irgendetwas zu holen. Ich bleibe alleine zurück und lasse mich vorsichtig auf dem Drehstuhl von Frau Maybach nieder. Das kalte Leder schließt sich ein wenig um mich, als würde es mich gleich verschlingen. Genauso sehr wie es mich mich klein fühlen lässt, genauso mächtig komme ich mir auf einmal vor. Ich erinnere mich an die Momente, in denen Frau Maybach wie eine einflussreiche Königin auf dem Stuhl gesessen hat und mir das Gefühl einer starken und bestimmten Frau vermittelt hat – genau das, was ich auch repräsentieren möchte. Ob du stolz auf mich wärst, Mama? Melancholisch betrachte ich das Foto. Kurz bilde ich mir ein, wir würden uns darauf bewegen und lachen. Als würde ich mich wirklich wieder in dem Moment befinden, als wir in unserer kleinen Küche saßen, vorher noch alte Fotos angesehen und Nüsse gegessen haben. Aber vermutlich wäre sie das nicht. Nein, das wäre sie nicht. Auf den Verlag schon. Auf meine Führungsposition, auch wenn es ihr nie darum ging. Genauso gut hätte ich auch in einer Einzimmerwohnung schreiben und meinen Traum der Schriftstellerin leben können, sie wäre stolz gewesen. Aber sie würde sich so sehr schämen, wie ich lebe. Mit Luna, die ihrer Meinung nach keine gute Freundin gewesen ist, mit Maik, der sich hätte gegen seinen besten Freund stellen sollen und mit Tim. Bei ihm ist mehr als klar, dass sie sich schämen würde, dass ich ihm ... dass ich unsere Vergangenheit akzeptiere. „Emma? Die Weiber kommen", reißt Sid mich aus meinen Gedanken. In den Händen hält er eine dampfende Tasse, die er mir lächelnd reicht. Heiße Schokolade, weil ich Kaffee so verabscheue. „Danke, Sid. Und – nenne sie nicht so, keine Frau, auch wenn die meisten unsympathisch sind", zische ich ihm zu, als er sich auf die Kante meines neuen Schreibtisches setzt. Er grinst nur und zuckt mit den Schultern. Kopfschüttelnd wende ich meinen Blick von ihm ab, sondern beobachte durch die Scheiben des Büros wie alle hineinströmen. Mit knirschenden Zähnen begrüße ich ein paar von ihnen; jedenfalls die, die mir winken oder mir einen tollen guten Morgen wünschen. Diejenige, die jetzt in meinem ehemaligen Büro sitzt, fragt mich sogar, wie mein Urlaub war. Überrascht antworte ich ihr und erkundige mich nach ihrem.

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