Kapitel sechsundzwanzig

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„Nicht erschrecken, okay?", Tim hebt die Arme, sodass ich ihm sein Shirt ausziehen kann. Inzwischen sind wir ein eingespieltes Team, was das Kleidungswechseln bei ihm angeht, sogar das Duschen. „Ich versuche es", erwidere ich, mein Herz schlägt mir wirklich bis zum Hals. Auf keinen Fall will ich Tim das Gefühl geben, ich würde mich vor seinem Körper ekeln, zumal ihm seine Verletzungen ja so unangenehm sind. Zu Unrecht, die Narben sehen wirklich nicht schlimm aus, es ist ja noch immer Haut; und ein Beweis dafür, dass er schon viel erlebt hat. Das wirklich Schreckliche kommt jetzt. Hoffentlich nicht zu schockiert starre ich auf den roten Brustkorb, der Verband ist gänzlich abgegangen. Vor mir klafft eine genähte Wunde, die Fäden stecken säuberlich in Tims vernarbter Haut. Schluckend lenke ich meinen Blick schnell auf das unversehrte Tattoo zehn Zentimeter darüber, bevor ich noch ohnmächtig werde. „Du findest es schlimm", stellt Tim fest, seine Oberarme zittern, als würde es ihn Kraft kosten, sich auf der Matratze abzustützen. „Äh ... du weißt, dass ich so etwas nicht sehen kann. Aber es ist ... es ist ... das ändert ja meinen Blickwinkel auf dich nicht und es schreckt mich auch nicht ab, es ist nur einfach äh zu früh, dass ich es sehe. Ein paar Wochen später wäre jetzt auch nicht schlimm gewesen", drucke ich herum. „Hey, dann mache ich das selber mit dem Verband, ist nicht schlimm", Tim stöhnt, als er sich nach vorne beugt, um nach dem Band in meinem Schoß zu greifen. Ich meine sehen zu können, wie die seidenen Fäden in seinem Bauch zu spannen beginnen. Mit einem verzogenen Gesicht schüttele ich den Kopf und schnappe mir die Rolle aus meinem Schoß. „Passt schon", erwidere ich. Ich kann das, ich habe meine Mutter schon ganz anders gesehen und ihr geholfen, dann kann ich auch meinen Exfreund verbinden. Aber ist es das überhaupt? Ist er nicht wieder mehr mein Freund als Ex? Schließlich war da eben ein verdammt guter Kuss ... Zielstrebig drücke ich Tim eine Kompresse auf die offene Hautstelle und setze mit dem Verband an. Eher umständlich muss ich um Tim herumklettern und mich um ihn winden, um ihn halbwegs vernünftig einzuwickeln. Doch er macht gut mit, viel zu gut, sodass ich mir wieder Gedanken mache, wie oft er schon so verarztet wurde. Ich will gar nicht zählen, wie viele Narben er hat. Auch Narben, die ich in der Dusche im Fitnessstudio noch gar gesehen habe. „Danke, dass du das alles machst", Tim lehnt sich in sein Kissen zurück, als ich fertig bin. „Kein Thema", erwidere ich genauso heiser, als er mich ansieht. Es ist wieder der Blick, den er vor unserem Kuss eben hatte. „Oh doch", protestiert Tim, aber ich lenke uns beide schnell wieder ab, indem ich mir die Kleberolle schnappe und noch weitere Streifen abreiße, um damit Tims Verband zu fixieren. „Schon alleine, weil es unser Treffen ruiniert hat", fügt Tim leise hinzu; sein Flüstern klingt fast verführerisch, nicht wie von Schmerzen geplagt. „Es ist noch nicht vorbei", erwidere ich. Oh Gott, seit wann spreche ich so? Ein breites Grinsen schleicht sich auf Tims Lippen. „Du bleibst also hier?", hakt er nach, ich schweige. „Okay", erwidere ich dann. „Ohne eigene Matratze?", hoffnungsvoll schaut Tim mich an. „Ich denke nicht, dass -", setze ich an, aber er schüttelt müde den Kopf. „Es passt schon, wir passen auf, dass du nicht dagegenkommst. Im Notfall mit einem Kissen oder so", beschwichtigend sieht er mich an mit seinen großen blauen Augen. Verdammt, das kann er echt gut. Mich mit seinem Blick anziehen, mich bitten und mich so ehrlich anschauen wie es kein anderer kann. Um ehrlich zu sein hatte ich früher nie gedacht, dass es mir blaue Augen so anhaben könnten, aber seit unserem Zusammenstoß auf der Treppe in der zehnten Klasse denke ich gar nichts derartiges mehr. „Auf deine Verantwortung", murmele ich, gerade noch, dass ich mich nicht verhaspele. Ich habe ewig nicht mehr mit einem Mann in einem Bett geschlafen, vor allem nicht so, dass man morgens gemeinsam aufsteht und gemeinsam frühstücken wird. „Gerne", lächelt Tim, sein Strahlen ist aufrichtig, so sehr ziehen sich seine Lippen nach oben. „Dann ... helfe ich dir wohl beim weiteren Ausziehen", ich räuspere mich, bevor die Situation komisch werden kann. Eilig rutsche ich an das Fußende und helfe Tim, seine Jeans abzustreifen; als ich sie zu Boden fallen lasse, klirrt der Gürtel laut auf dem hohlen Holzboden. „Das ist aber irgendwie ein wenig zu einseitig", Tim lächelt mich unsicher an, sofort spüre ich, dass er sich fragt, ob er zu weit gegangen ist. „Ach ja?", ich ziehe die Augenbraue hoch, mein Grinsen lässt sich noch schwer verstecken. „Äh ja, genau, ich meine, du bist ja die Vertreterin der Gleichberechtigung schlechthin", Tim nickt, als würde er seine eigenen Worte bestätigen müssen, was er auch muss. „Und deswegen muss ich mich auch ausziehen?", frage ich neckisch, Tim presst die Lippen schuldbewusst zusammen. „Nein, nein, so war es nicht gemeint, nicht ganz ausziehen, ich wollte nicht – ich weiß, dass du noch warten willst und dass das meine eigene Schuld ist, dass du mich nack-", setzt er an, aber diesmal muss ich lachen. Fragend hält er in seinem Monolog Inne. „Entspanne dich, ich weiß, was du meintest", grinse ich. Zumindest hoffe ich für ihn, dass es richtig ist, wie ich es aufgefasst habe. Tatsächlich entspannt er sich, seine Finger lösen sich verkrampft aus der weißen Bettdecke. Seufzend ziehe ich mir meine Jeans aus und werfe sie achtlos auf Tims, was ihm ein verdutztes Geräusch entlockt. Schmunzelnd betätige ich den Lichtschalter, der sich unterhalb des Betts befindet; inzwischen habe auch ich herausgefunden, dass es zwei Wege gibt, dieses Licht im Zimmer zu löschen. Knackend geht die Deckenlampe aus, nur das Mondlicht scheint noch dämmernd durch das gekippte Fenster. Sofort kuschele ich mich tiefer in meinen Hoodie, den ich aus Protest anlasse, als die kalte Nachtluft hineinströmt. Fröstelnd schiebe ich meine nackten Beine unter die Decke zu Tim, er atmet tief ein. „Stört dich das etwa?", frage ich, die Provokation kann ich in meiner Stimme nicht zurückhalten. „Das komplette Gegenteil", antwortet Tim sofort, sein Grinsen ist richtig hörbar, dazu muss ich mich gar nicht zu ihm drehen. Trotzdem tue ich es und schaue in sein Gesicht, als wir langsam unsere Beine ineinander schieben. Vorsichtig drängt Tim sein Knie zwischen meine nackten Oberschenkel, seine Haare kitzeln mich in der Kniebeuge. Doch trotzdem wage ich es, mein linkes Bein über sein rechtes zu schlagen, bis ich den Stoff seiner Boxershorts an meinem Oberschenkel spüre. Er zieht ebenfalls scharf die Luft ein, als sein Bein versehentlich meinen Slip berührt. „Ich glaube, ich weiß, was ich als Drittes mit auf die Insel nehmen würde", flüstert Tim gegen meine Lippen. Fasziniert beobachte ich seine Mundwinkel, die sich bewegen und seine Bartstoppeln, die mich kratzen, als ich mit dem Finger darüber fahre. „Und zwar? Sag jetzt bloß nichts wie meine Unterwäsche", zische ich, Tim lacht leise. „Na klar, ich stehe total drauf, deinen Sport-BH selber anzuziehen", raunt er zurück, ich boxe ihn gegen seinen rechten Oberarm, der locker über unserer Decke liegt. „Ha ha. Warte mal, woher weißt du, was ich für Unterwäsche trage? Ich meine, es macht mir nichts aus, aber ich dachte, du hättest mich nur im Bikini gesehen", denke ich laut, Tim lacht wieder hörbar. „Hab ich auch. Nur kenne ich dich, ich bin mir sicher, dass du noch das Gleiche anhast wie vor elf Jahren", schmunzelt er, ich grinse ebenfalls: „Spinner." „Also, im Ernst. Ich überlege wirklich, ob ich nicht einfach einen Hoodie nehmen würde. Man hätte es immer warm, etwas zum Kuscheln und ich würde immer an dich denken", Tim grinst frech, ich vergrabe meinen Kopf in seinem Kissen. Es riecht nach ihm und aus einem unerfindlichen Geruch hätte ich Lust, meine Nase länger in dem weichen Stoff zu vergraben, doch ich unterlasse es. „Viel zu kitschig!" „Hey, beinahe hätte ich gesagt, dass ich sogar einen deiner Hoodies nehme, damit er noch nach dir riecht", lacht Tim, diesmal lacht er aus vollem Herzen. Doch sofort hört er wieder auf, als sich in das Lachen ein schmerzhaftes Verziehen der Stimme mischt. „Ist ja grausam", knurre ich übertrieben, Tim schmunzelt mich in der Beinahe-Dunkelheit an. „Na gut, dann suche du eine Frage aus", murmelt er. „Ich hab doch auch keine Ahnung, was man sich so zum Kennenlernen fragt", verzweifelt werfe ich meinen Kopf nach hinten ins Kissen und verfehle dabei zum Glück Tims Kopf. „Musst du aber, du musst die ganze Nacht mit mir in einem Bett verbringen", flüstert Tim, ich seufze. „Hör auf, so etwas zu flüstern, das klingt schon fast gruselig", zische ich, mein Gegenüber lacht wieder nur leise. „Für dich vielleicht. Hast du jemals einen Horrorfilm geschaut?", fragt Tim dann, ich kneife die Augen zusammen. „Hm, nein, nicht richtig. Aber ich hab schon ein, zwei Serien geguckt, die relativ gruselig waren. Und sogar ein paar Thriller gelesen", lächele ich fast ein wenig stolz. Dass ich etwas anderes in meinem Leben als New Adult-Bücher und jetzt wohl eher Romane gelesen habe, lässt sich an einer Hand abzählen, wenn man die verpflichtenden Lektüren für das Studium und die Schule abzieht. „Welches Buch fandest du am heftigsten?", fragt Tim gespannt. „Hm, ich bin mir nicht sicher. Aber wenn, dann wirst du es nicht kennen. Du bist absolut der Fitzeck und King-Fan, oder?", flüstere ich, auch wenn es mir jetzt schon kalt den Rücken hinunterläuft. „Total. Manches ist es beängstigend realistisch, anderes dafür gar nicht", Tim gähnt. Er gähnt. Bei so einem Thema. Es ist ja nicht so, dass ich ein Angsthase wäre, im Gegenteil, aber es gibt dennoch Unterschiede zwischen Horrorfilmen und einem einfachen Sprung über eine Klippe oder einem Klettern in beachtlicher Höhe. Ich bin eher die Actionfrau, nicht die Gruselsüchtige. „Können wir bitte über etwas anderes reden? Sonst liebe ich Bücher, aber jetzt so im Dunkeln ...", versuche ich möglichst cool zu sagen. Eigentlich spuken mir schon längst wieder die Bilder von den verschiedenen Büchern durch den Kopf sowie, dass ich diejenige bin, die mit dem Rücken zur Tür schlafen muss. Mir ist klar, dass das nicht wahnsinnig rational ist, aber so bin ich nun mal: oft von meinen Gefühlen geleitet. Dabei weiß ich natürlich ganz genau, dass Tim sogar im Zweifel eine Pistole in dem Safe hat. „Klar, ich weiß, was du meinst", antwortet Tim mir nach einer Weile. „Hm, was denkst du darüber, dass Luna und Maik an der Nordsee sind? Würdest du irgendwann mal wieder hinfahren wollen? Oder willst du den Urlaub mit deinen Eltern so stehen lassen?", frage ich behutsam, Tim schielt sofort zu dem Bilderrahmen, der sich hinter mir befindet. „Ich weiß es nicht. Eigentlich möchte ich die Erinnerungen so behalten, wie sie sind. Andererseits fände ich es auch schön, irgendwohin mit meinen Kindern zu fahren und zu zeigen, wo ihre Großeltern ihre glücklichsten Momente hatten", Tim lächelt melancholisch, was es mich fast bereuen lässt, gefragt zu haben. „Seit wann sprichst du denn im Plural bei Kindern?", rutscht es mir heraus. „Oh man, das war keine Absicht. Aber ich habe mich all die Jahre daran gewöhnen müssen, in einer Floskel zu sprechen. Ich kann ja wohl schlechtsagen die Tochter, die ich mit Emma haben werde ...", Tim lacht nervös. „Hast du gerade", necke ich ihn. Oder mich. Eigentlich gehe ich viel zu locker damit um, dass mir Tim heute schon mehrmals deutlich gemacht hat, wie viel ihm das mit uns bedeutet hat und nie damit aufgehört hat. „Stimmt. Für mich gibt es keine andere Option als mit dir", wispert Tim. Mein Herz setzt glaube ich gerade aus. „Oh man, sorry, ich übertreibe es heute echt. Du weißt noch nicht, ob du mir verzeihen kannst und ich küsse dich und beziehe dich in eine Kinderplanung mit ein, ich Idiot", Tim wickelt die Decke um seine Finger, jedenfalls knirscht die Decke entsprechend. „Wo willst du sonst noch mit deinem Kind oder deiner Tochter oder wie auch immer hin?", lenke ich schnell ab, Tim entspannt sich sichtbar. Genau gleichzeitig drehen wir unsere Köpfe, sodass wir auf dem Hinterkopf liegen. „Ich war bis jetzt nirgends. Seit dem Tod meiner Eltern hatte ich keine Lust mehr zu reisen. Und zu Militärzeiten bin ich auch nur innerhalb Deutschlands herumgekommen, vielleicht mal noch Übungen in der Schweiz oder in Österreich durchgeführt, aber du weißt, was ich meine", brummt Tim, den Blick auf den Halbmond draußen gerichtet. „Schon, ich war auch kaum unterwegs. Aber wo würdest du hinfahren mit deiner Familie? Oder alleine?", wispere ich. Meine Augen wandern von Stern zu Stern, während Tim neben mir nur laut ein und ausatmet, während er grübelt. „Vielleicht einfach nach Italien oder Frankreich, ich habe echt keine großen Reiseansprüche. Ich muss nicht zwingend fliegen oder neue Kulturen entdecken, ich würde einfach nur gerne mal ... entspannt sein. Glücklich sein", höre ich nach einer Weile seine raue Stimme. Die Umklammerung unserer Beine verstärkt sich automatisch, ich weiß nicht, ob von ihm aus oder von mir aus. „Wohin würdest du gehen, Em?", flüstert Tim in die Nacht, ich blinzele. „Vielleicht Spanien, ich wüsste gerne, ob ich noch genauso gut bin wie im Kolloquium", grinse ich dann. Tim lacht. „Ach, und dann willst du noch in den Vatikan und schauen, ob der Papst mit dir Latein spricht", zieht er mich auf, ich trete ihn unsanft. „Ha ha. Obwohl es spannend wäre. Außerdem würde mir sonst auch nichts einfallen, ich habe einfach kein Fernweh, das weißt du", grummele ich. „Dafür hast du schon eine Weile in Bayern gelebt", wirft Tim ein, ich seufze: „Du tust so, als wäre es kein Bundesland, sondern ein anderer Kontinent." „Also fandest du es doch nicht so schlimm? Hattest du dort Freunde?", fragt Tim leise, nahezu behutsam. „Nicht richtig, nein. Im Studium gab es noch ein, zwei Frauen, aber zu denen hab ich nach meinem Bachelor den Kontakt abgebrochen, so gut hat es dann einfach nicht gepasst. Irgendwie ist Luna die Einzige, die mich versteht. Und meine Mutter natürlich", ein trauriges Schmunzeln schleicht sich auf meine Lippen. „Wie geht es ihr?", Tims Frage treibt mir Tränen in die Augen. Wütend blinzele ich sie wieder weg, ich will nicht, dass meine Mutter Thema des heutigen Abends oder der Nacht ist. Ich kann nicht. Ich kann nicht ertragen, dass sie einfach abgehauen ist und ich kann nicht akzeptieren, dass ich gerade neben dem Mann einschlafe, den sie bis auf den Tod verabscheut. „Em?", Tim dreht seinen Kopf zu mir, das Rascheln des Kissenbezuges verrät es mir. Schweren Herzens drehe ich mich ebenfalls zu ihm, seine Augen wirken in dem Licht richtig dunkel, gar nicht mehr blau. Tief schaut er mich an, als würde er wissen wollen, was hinter dem frechen Grinsen verborgen ist. Aber ich bin nicht wie er, sodass ich mich ihm sofort anvertrauen kann. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihm überhaupt vertrauen kann. Worauf lasse ich mich überhaupt gerade ein? „Hm?", wispere ich, meine Lippen fühlen sich auf einmal total schwer an, genau wie meine Augenlider. „Ist okay, vergiss die Frage. Ich denke mir einfach eine neue aus", Tim grinst verschmitzt und lässt seine Hand langsam nach oben wandern. Zaghaft streichen seine Finger durch meine offenen Haare und drehen vorsichtig ein paar meiner Strähnen um die Fingerspitzen. Obwohl nur seine Fingerkuppen meine Haare, nicht einmal meine Haut berühren, breitet sich eine Wärme in mir aus. Mit angehaltenem Atem nehme ich wahr, wie meine Kopfhaut unter seiner Berührung zu prickeln beginnt, genau wie damals. „Was steht auf deiner Bucketlist?", raunt Tim, seine rauen Finger noch immer in meinen elektrisierten Haaren. „Viel, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich will ein Buch veröffentlichen – und wenn es online ist – , ich will eine eigene Bücherei oder mein eigenes Buchzimmer haben und ich will in einer Festung aus Büchern einschlafen. Ich will einmal einen ganzen Kinosaal für mich haben und ich will vielleicht ein Tier aus dem Heim retten. Ich grübele seit Jahren, was ich für ein Tattoo haben will und ich will einmal mit der Faust zuschlagen und -", jetzt muss ich selber lachen, weil es so albern klingt. Doch Tim schaut mich nur ernst an. „Wieso lachst du?", fragt er. „Ach, komm schon. Es ist total gestört, sich zu wünschen, einmal zuzuschlagen. Abgesehen davon ... keine Ahnung, manchmal sind meine Wünsche komisch", murmele ich. „Warum?", ungläubig schaut Tim mich an, was mich grinsen lässt. „Ach, andere wünschen sich Familie, Hochzeiten, eigene Häuser und was weiß ich. Und dann komme ich. Bin ich ein schlechter Mensch, weil ein Kind nicht auf meiner Liste steht?", wispere ich, am liebsten würde ich mir die Zunge abbeißen. „Nein, nein das bist du nicht. Das steht bei mir außerdem auch nicht", flüstert er leise zurück. „Was dann?", erwidere ich heiser, Tim schaut kurz auf meine Lippen. „Du, im Grunde nur du. Ich würde gerne jeden Tag neben dir aufwachen und dich lachen sehen, ich würde gerne das Feuer in deinen Augen sehen und deine frechen Sprüche jeden Tag hören. Und wenn ich das nicht kann ... ich glaube, der Sinn des Lebens ist es, am Ende so viel Zeit mit geliebten Menschen wie möglich verbracht haben. Ich habe bis jetzt jeden Tag mit Maik und Luna verbracht, das ist toll, aber du fehlst. Und die beiden bedeuten mir viel. Sehr viel. Aber auch die besten Freunde können nicht den Platz der großen Liebe einnehmen ... Und sonst ähm stehen da noch ein Filmmarathon oder dass ich mich traue, jemandem die Narben zu zeigen", Tim senkt den Blick, sodass mich seine Wimpern beinahe kitzeln. „Das eine hast du aber schon", flüstere ich atemlos, noch immer unter Strom von seinem Geständnis. „Ja. Und was hast du schon erledigt bei dir?", murmelt Tim in das Kissen, ich bin kurz davor, sein Kinn einfach wieder nach oben zu drücken. „Den Roadtrip. Oder komplett nass vom Regen sein", raune ich, meine Stimme ist automatisch ganz belegt. Das einzige Mal, dass ich vollständig durchnässt war, war unser erster Kuss. „Unser erster Kuss?", Tim schmunzelt. „Ja", ich beiße mir auf die Lippen, die ein wenig nach Tim schmecken. Vielleicht kommt es von dem Kuss vorhin, vielleicht von der Erinnerung. „Hattest du noch andere Kussfantasien?", Tim lacht nervös, ich muss auch kurz auflachen. „Ach ... womöglich ein Kuss auf dem Skateboard", gebe ich zu. Ich bin sicher, trotz der Dunkelheit leuchten meine Wangen in derselben Farbstufe wie meine Haare. „Check", raunt Tim leise, seine Finger in meinen Haaren ziehen einen imaginären Haken. „Ein Kuss beim Klettern", fahre ich kaum hörbar fort. „Wirst du mit mir klettern gehen?", haucht Tim, ich verdrehe die Augen: „Kitschig." „Du wirst also mit jemand anderem gehen?", fragt er weiter, ich schüttele beinahe den Kopf, aber so nett will ich doch nicht sein. „Wer weiß, das war ja nur ein unverbindliches Treffen", meine Worte schreien schon Lüge. Tim schluckt. Ich wage es nicht, mich zu bewegen. Still liegen wir uns gegenüber, sein Knie noch immer zwischen meinen Beinen und seine Finger in meinem Haar. „Ich ... ich meine ... du triffst dich öfters mit Frauen. Immer nur einmal ...", versuche ich die Situation zu retten. Verdammt, ich muss über meinen Schatten springen. Ich habe kein Problem damit, einen Mann um ein Treffen zu bitten, beide sollten den Job haben. Nur ist es Tim. Abwartend schaut er mich an, was mich anspornt, es auszusprechen. Die Verletzung in seinem Blick zu sehen, tut weh. Ganz gleich, was er damals getan hat. Damals. „Es wäre ... unter Umständen ... theoretisch ... etwas anderes, wenn wir uns nochmal treffen ... würden ... oder?", zwinge ich mich dazu, ihn zu fragen. „Gott, du kannst echt so etwas von gemein sein, Em", raunt Tim, die Stirn in Falten gezogen. „Tja", grinse ich. „Nichts tja. Eigentlich sollte ich dich bestrafen", flüstert Tim, wobei er sich schon aufrichtet. Mit einem scharfen Lufteinziehen, als er seinen Brustkorb hebt, beugt er sich über mich. „Das Klischee? Mit einem Kuss?", neckisch grinse ich ihn an. „Oh ja, nach all den ganzen kitschigen amerikanischen Filmen", Tim grinst ebenfalls frech, auch wenn ich ganz genau die Unsicherheit in seinem Blick erkennen kann, ob es richtig ist. Bevor er weiter nachdenken kann, hebe ich den Kopf und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen. „Hey, eigentlich -", protestiert Tim grinsend. „Hey?", erwidere ich provokant, Tim lächelt im Mondlicht: „Ja, hey." „Und jetzt beuge dich wieder auf deine Seite, bevor die Nähte aufgehen", weise ich Tim an, wobei ich ihn sanft gegen die Schulter drücke. „Du bist echt die unromantischste Person der Welt", grummelt er, als er sich wieder auf das Kissen legt. Sofort sinken wir beide ein Stück ein. „Ich weiß", grinse ich zu ihm hinüber. „Ich bin trotzdem froh, dass du bei mir übernachtest", sagt Tim eindringlich, seine Augen ziehen sich zusammen. „Ach ja?", flüstere ich und schiebe meine Hände unter mein Gesicht, „klingt ein wenig wie damals."


Welchen Film?", fragt Tim, der wild auf dem Touchpad seines Laptops herumtippt. Er hat zum Glück den Zugang seiner Eltern zu einer Mediathek bekommen, andernfalls könnten wir es uns beide nicht leisten, diese Filmauswahl zu haben. „Hm", kommentiere ich nur, als ich mich auf mein Bett fallen lasse. Es knarzt bedrohlich; meine Mutter wollte schon vor Monaten nach einem neuen Bett mit mir schauen, weil bei meinem Kinderbett der Rahmen durchgebrochen ist, aber natürlich schaffen wir es nie. Ich nehme es ihr nicht übel, dass sie zu viel arbeiten muss und wir trotzdem kaum Geld haben, es ist nun mal unsere Realität. „Hallo, jetzt sag", Tim stupst mich mit seiner Schulter an, die in einem meiner Oversized-Hoodies steckt. „Vielleicht ... Tribute von Panem? Oder Divergent?", werfe ich ein, Tim gibt sofort den zweiten Titel in der Suchleiste ein. „Emma? Tim?", ein Klopfen reißt uns aus der Vorfreude. „Ja, Mama?", rufe ich zurück. Die Mühe, vom Bett aufzustehen, mache ich mir nicht, meine Mutter wird sowieso hereinkommen. „Ich wollte euch nur noch eine Tüte Chips bringen", lächelt meine Mutter müde, als sie den Kopf zur Tür reinsteckt. Aber wir wissen alle drei, dass das nur ein Vorwand ist, zu kontrollieren, was Tim und ich im wahrsten Sinne des Wortes treiben. „Das ist lieb, Mama", seufze ich deshalb auch und klettere schlussendlich doch aus dem Chaos aus Bettdecke und Kuscheldecke hinaus, um die Tüte von meiner Mutter abzuholen. „Vielen Dank, Frau Femer", lächelt auch Tim. Ich glaube, er ist ihr wirklich unendlich dankbar, dass er hier übernachten darf. Denn eigentlich ist meine Mutter ihm gegenüber unfassbar misstrauisch – einfach nur, weil er ein Kerl ist. Vermutlich ist das der Grund, warum sie ihm noch immer noch nicht das Du angeboten hat – anders als Luna und Maik – und immer wieder vorbeischaut. Dabei sollte sie mir mehr Vertrauen entgegen bringen, ich habe ihr schon mehrmals hoch und heilig versprochen, dass zwischen Tim und mir nichts laufen wird, was mich schwängern könnte. Und nur weil mein Freund bei mir übernachtet, müssen wir nicht all diese Regeln über Bord werfen. „Aber sicher, ihr zwei. Na dann, ich lege mich langsam mal hin, ich muss morgen früh raus, okay? Und macht nicht mehr zu lange", klingt meine Mutter ziemlich streng, wie sie da mit dem Fingernagel auf den Lichtschalter klopft und einen letzten Blick auf das Schlaflager am Boden wirft, auf dem Tim eigentlich schlafen soll. Vermutlich würde sie ihn auch jetzt gerade am liebsten erwürgen, nur weil er auf meinem Bett sitzt und ich dicht an ihm kuschele. „Ja ja, gute Nacht", ich lächele sie kurz an, Tim wiederholt meine Verabschiedung und stellt noch in der selben Sekunde die Lautstärke an seinem Laptop herunter. Kaum hat meine Mutter die Zimmertür hinter sich geschlossen, atmet Tim erleichtert aus. „Ich denke jedes Mal, sie bringt mich um", flüstert er auch, ich lache. „So schlimm ist es auch nicht. Insgeheim mag sie dich als Mensch. Nur als Junge nicht so", raune ich ihm ins Ohr, Tim seufzt: „Aber Maik mag sie." „Der will aber auch nicht mit mir schlafen", schmunzele ich. „Das hoffe ich auch für ihn", grinst Tim, ich schubse ihn Richtung Wand. „Spinner."




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