„Hilfst du mir noch?", mutig schaut Tim mich an, was mich die Stirn runzeln lässt. „Klar ...? Wobei jetzt genau?", betont fragend drehe ich mich zu ihm, während er bereits von dem Bettlager rutscht und zu seiner Tasche stolpert. Wortlos wirft er mir einen schweren Beutel rüber, den ich nur mit Mühe fange. Als ich ihn anhebe, klackert es darinnen, als würden kleine Flaschen aneinander schlagen. „Warte, ist das alles deine Medizin? Noch die Gleiche wie vor Wochen?", verwundert leere ich den hellen Beutel aus, aus dem tatsächlich lauter kleine Fläschchen und Tabletten purzeln. „Hm ja. Und stinkende Salbe", Tim lacht unsicher, aber ich grinse automatisch. „Und jetzt soll ich dich damit einreiben?", schmunzele ich und greife nach der blau-weißen Tube, die noch fast voll ist. „Wenn es dir nichts ausmacht", entgegnet Tim lässig, obwohl wir beide wissen, dass er derjenige ist, dem es ziemlich wahrscheinlich etwas ausmacht. Nervös zieht er an seinem Verband, der sich locker um seine Brust abwickelt, bis der dünne Stoff zu Boden fällt. „Im Gegenteil", murmele ich und schaue Tim noch einmal fragend an, ober sich sicher ist. Doch mein Freund schaut mich nur angespannt mit großen Augen an, sein Atem wird wieder hektischer, als ich die Kompresse, die sich festgesogen hat, von seiner Haut abziehe. Darunter verbirgt sich etwas, das ich nicht erwartet hätte; von dem ich nicht weiß, ob mein Kreislauf das mitmacht: Die Haut spannt sich zart über tiefrote und bräunliche Flecken, dazu blättert schon etwas ab, von dem ich nicht weiß, ob es Fäden, Haut oder Schorf ist. Schluckend schraube ich die kleine Tube auf und drücke etwas auf meine Finger, was wirklich verdammt stinkt. Der beißende Geruch breitet sich sofort im Raum aus, sodass wir beide husten müssen; unsicher lachen wir. „Achtung, kalt", ich räuspere mich, als ich sanft mit meinem Zeigefinger und der Salbe über die halboffene Stelle fahre; die braune Creme verteilt sich geschmeidig unter meinem Zeigefinger, sodass ich viel schneller als gedacht Tims Wunde unter mir spüre. Vorsichtig lasse ich meine Hand einmal kurz darüber gleiten, fasziniert davon, wie weich er sich anfühlt und, dass ich mit nur einer falschen Bewegung alles zum Reißen bringen könnte. Aber Tim vertraut mir nach wie vor blind, lässt mich seine empfindlichsten Stellen berühren. Sanft schaue ich auf und begegne sofort Tims Blick, der sich verdunkelt, als wir uns in die Augen schauen. „Em", murmelt Tim nur, fast tonlos und doch so wahnsinnig rau, sodass sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitet. Als ich schaudere und damit kleine Kreise über Tims Brust und Bauch ziehe, breitet sich auch auf Tim eine Gänsehaut aus. „Ups", grinse ich ihn frech an. „Und das soll ich dir glauben?", raunt Tim und schaut mich ebenfalls ein wenig kampflustig an, ich zucke gleichgültig mit den Schultern: „Musst du." „Hm", nachdenklich lächelt Tim mich an, seine Arme und Hände zucken, als würde er mich gleich packen und wieder auf die Matratze drücken. Doch irgendwie ist die Stimmung zu ernst, zu tiefgründig und zu explosiv, als das wir wieder kindisch herumalbern könnten; das hier ist etwas Ernstes zwischen uns. Tim reizt seine Grenzen jedes Mal aus, lässt mich jedes Mal neu etwas an ihm entdecken und berühren, das sonst niemand kennt. Er gesteht mir mehr zu als sich selbst. An ihm selbst. Um das ansatzweise verdauen zu können, schließe ich die Augen. „Müde? Nachdenklich?", hakt Tim sofort leise nach; natürlich hat er bemerkt, dass sich mein Ausdruck verändert hat. Grinsend öffne ich die Augen wieder, etwas träger als zuvor, und antworte: „Müde." „Dann sollten wir uns wohl schon mal das Lager errichten", Tim nickt, um seine eigenen Worte zu bekräftigen. „Sollten wir", stimme ich ihm zu und schnappe mir wie zum Schein eins der Kissen, um es ins Eck zu werfen. Ich mache das jetzt einfach, es ist keine große Sache. Früher war es auch nie eine, ich sehe das locker. Und trotzdem bin ich unter Strom, als ich mir meinen Rucksack hole und darin nach einem Schlafshirt wühle. Als Tim registriert, was ich da tue, schaut er aufmerksam und errötet gleich danach, als er merkt, dass er mich angestarrt hat. „So ein Gentleman aber auch", kommentiere ich seine rosa gefärbten Wangen, Tim wirft lachend ein Kissen auf mich. „Ach Quatsch, nur bei dir bin ich so nervös", protestiert er und wie zum Beweis werden seine Wangen etwas dunkler. „Abgesehen davon ist das keine aufgeregte Nervosität, sondern eine äh leidenschaftliche Nervosität", verbessert er mich grinsend, ich stelle meinen Rucksack langsam auf dem Boden ab und komme mit meinem schwarzen T-Shirt unter dem Arm näher an ihn heran. „Leidenschaftliche Nervosität also?", wiederhole ich seine Worte leise, Tim schluckt. „Ja, zu komisch?", wispert er, sein Blick ist auf meine linke Hand gerichtet, die bereits den Saum meines dicken Hoodies anhebt. „Wenn du meinst, dass es dir auch andauernd so vorkommt, als würden wir alles das erste Mal erleben, nein", gestehe ich meinem Freund, dessen Mundwinkel sich weit nach oben ziehen. „Mir geht es ganz genauso. In Gedanken bin ich wieder sechzehn Jahre alt und bin zum ersten Mal mit einem Mädchen alleine", seufzt Tim leise, ich blinzele. In meinem Kopf spielen sich schon längst wieder die Bilder ab, wie es damals wirklich bei uns war, wie nervös wir beide waren, wie zittrig und ungeschickt, nur alleine beim Ausziehen der Oberteile. Kopfschüttelnd tue ich die Bilder wieder ab und greife endgültig nach dem Saum meines Hoodies, um ihn mir einmal über den Kopf zu ziehen. Als ich die Bänder wieder aus meinen elektrisierten Haaren gelöst habe, spüre ich Tims warme Blicke auf meinem Oberkörper. „Hör auf so erotisch zu gucken", flüstere ich ihm auch zu und werfe ihm meinen Hoodie an den Kopf, er fängt ihn lachend zu spät auf. „Oh je, entschuldige, das war natürlich ein Versehen", so ironisch wie sonst nur ich rede, betrachtet Tim mich wieder und rutscht ein Stück nach hinten auf der Matratze, sodass ich mich ohne ihn zu berühren, daneben setzen kann. „Du hast bei mir übrigens mindestens genauso geflasht geschaut, auch wenn ich nicht verstehe, warum", fügt Tim hinzu, als ich mir gerade mein Schlafshirt schnappen will. „Weil ... ich den Anblick wirklich vor elf Jahren das letzte Mal hatte. Außerdem hat sich bei dir viel verändert, das Tattoo, die Narben ... die Muskeln", grinse ich ihn an, Tim schüttelt lachend den Kopf. „Und bei dir nicht, oder was?", amüsiert schielt er nochmals auf meinen nackten Bauch und den grauen Sport-BH, bei dem ich keine Lust mehr hatte, ihn zu wechseln. „Naja, nicht richtig. Und du hast mich schon am See gesehen, ganz am Anfang", erkläre ich ihm und greife jetzt endgültig nach meinem Shirt, um es mir über den Kopf zu ziehen. „Was meinst du wie schwierig das war, mir nichts anmerken zu lassen? Vor allem wollte ich nicht, dass du das falsch auffassen könntest. Mir ging es nur darum, dass du endlich wieder da warst, in meinem Leben warst. Ich war ab da wieder ... glücklich. Und dann hast du dich halb vor mir ausgezogen, natürlich hat das etwas mit mir gemacht, nur war das eben nebensächlich; ich habe einfach nur jede Sekunde mein Glück kaum fassen können, dass ich dich noch einmal sehen durfte", Tim lächelt mich halb glücklich, halb traurig bei der Erinnerung an und zieht mein Shirt noch ein Stück tiefer, als müsste er mir beweisen, dass es ihm wirklich nicht darum ginge. Schmunzelnd schaue ich zurück und löse mich dann, um mir meine Jeans aufzuknöpfen und abzustreifen. Grummelnd, dass das Hosenbein an meinem Fuß festhängt, zappele ich herum und gerate noch mehr in Rage, als Tim leise lacht. „Darf ich dir helfen?", grinst er mich frech an. Wie damals. Plötzlich wird mir klar, dass er sich wirklich nur äußerlich verändert hat, seine Augen und seine Seele sind die Gleichen geblieben. Vielleicht hat er viel erlebt, das ihn geprägt hin, sicher sogar, aber er ist immer noch er. Der Typ, den ich so sehr geliebt habe, dass es wehtat und ich es als Teenager nur zur Hälfte begreifen konnte, was genau ich da alles fühle. „Meinetwegen", grinse ich genauso frech zurück und halte ihm mein Bein hin, sodass er an der Jeans ziehen kann. Gemeinsam brauchen wir wesentlich mehr Zeit, als ich alleine gebraucht hätte und das ärgert mich nicht einmal. Stattdessen komme ich aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus und hinterfrage mich jedes Mal in Gedanken, ob das hier wirklich gerade passiert. „Du darfst mir übrigens auch helfen", Tim lächelt mich scheinheilig an, sodass ich ihn in den Oberarm knuffe. „Wie witzlos, wo ich das doch schon mal gemacht habe", raune ich übertrieben anzüglich, sodass wir beide lachen müssen, als meine Finger wie selbstverständlich über seinen Gürtel gleiten und die Schnalle lautlos öffnen. Wie eingespielt bleibt er liegen und schiebt sich seelenruhig die Jeans bis auf die Höhe der Knie, dann streife ich sie den Rest von seinen Beinen ab und bleibe an einer kleinen Einkerbung unterhalb seines Knies hängen. „Ist das die vom Mountaincart?", ich tippe wie zum Beweis auf den hellrosafarbenen Fleck, den man noch ziemlich gut auf der sonst so hellbraunen Haut erkennen kann. „Jep, natürlich", brummt Tim und seufzt theatralisch, ich drehe den Kopf zu ihm, sodass meine längeren Haarspitzen ihn noch eine Weile kitzeln müssten.„Ohhh, tat das damals so weh?", necke ich meinen Freund, Tim grunzt zustimmend, obwohl er selber anfängt zu lachen. „Ach, es war einfach gemein, dass ihr das schon alle konntet", sagt er dann nur, kein bisschen eingeschnappt. „Was hältst du davon, wenn wir das alles nochmal machen?", spreche ich meinen Gedanken laut aus, Tim schaut skeptisch. „Du meinst alles, was wir damals gemacht haben? Nochmal zu viert so einen Actiontag, vielleicht auf den Jahrmarkt, bis abends Spiele spielen und Cider trinken?", hakt er nach, an seiner angerauten Stimme erkenne ich nicht ganz sicher, ober so atemlos begeistert oder so atemlos verstört ist. „Genau, ich denke ... wir haben einiges nachzuholen? Also ich mit euch, ihr wart ja jahrelang zu dritt unterwegs und -", murmele ich, aber Tim unterbricht mich sofort: „Hey, so darfst du das nicht sehen. Wir haben viel gemacht, ja, aber in Gedanken warst du ziemlich oft dabei. Es war nicht so, dass wir dich aus unseren Erinnerungen gestrichen hätten, Em! Andauernd haben wir von dir gesprochen und ich habe mir immer alles von Luna berichten lassen, was es Neues von dir gab, wenn ihr mal telefoniert habt. Ich habe sogar alles fotografiert für den Fall, dass ich es dir irgendwann mal zeigen kann, weil wir alle drei mit der Hoffnung gelebt haben, dass du irgendwann wieder dazustößt. Und dann kam dein Anruf, dass deine Wohnung hier doch nicht mehr existiert ...", deutet Tim lächelnd an, ich nicke. Es erfüllt mich mit Freude, dass die drei mich auch in all den Jahren nicht ausgeschlossen haben und genauso, dass Tim sogar ... Breit grinsend klettere ich vom Bett, tappe zu Tims Jeans am Boden, um sein Handy zu holen und springe damit wieder auf die riesige Matratze, sodass es Tim trotzdem kurz schüttelt. „Ich will sofort alle Bilder sehen", fordere ich und reiche ihm sein Smartphone, dessen Bildschirm genau wie meiner schon einige Risse hat. Seufzend rutscht Tim ein Stück bei Seite, sodass ich mich mit einem Kissen neben ihn quetschen kann, die Wand im Rücken zum Anlehnen. Erst richte ich uns noch die Decken her und wickele meine Finger in den Saum des weichen grauen Stoffes ein, dann entsperrt Tim sein Handy so, dass ich den Code sehen kann. „Interessant", murmele ich und schmunzele ihn an, er zuckt mit den Schultern. „Irgendein Datum, das ich mir gut merken kann, musste ich ja nehmen. Abgesehen davon erschien mir etwas, das mit meinen Eltern zu tun hat, zu traurig, also ... etwas, bei dem ich lächeln kann", Tim schaut verlegen und doch intensiv, als würden seine tiefen Blicke eine komplett andere Sprache sprechen als seine dunklen Wangen. „Niedlich", necke ich ihn und tätschele ihm auf das Haar, er lacht leise und öffnet die Galerie, in der die obersten Ordner alle mit meinem Namen abgespeichert sind. Schluckend betrachte ich den Bildschirm, den Tim vor uns hält, und auf dem lauter Bilder wie in einer Diashow durchlaufen, begonnen bei einem Foto von drei Seminararbeiten, darauf folgen Selfies von Tim, Maik und Luna, als sie um die siebzehn Jahre alt gewesen sein müssen, dann alle drei mit Abizeugnissen, immer so weiter. Elf Jahre lang Fotos, alle schon in der richtigen Reihenfolge von Tim vorbereitet. Als ich fragend zu ihm sehe, lächelt er mich an und legt er seinen Kopf auf meine Schulter, was eine angenehme Wärme durch mich hindurch laufen lässt.
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Любовные романыTiefe, intensive, brennende Blicke bis in die Seele. Die hat Emma damals hinter sich gelassen - doch sie kehrt nach elf Jahren zurück. Wie das Schicksal es will, gibt es keinen anderen Ausweg, als in die WG ihres Exfreundes Tim, ihrer Ex-BFF Luna u...