Kapitel vier

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Ich betrachte den leeren Kofferraum meines Fords. Der letzte schwere Karton mit meinen ganzen Jane Austen-Büchern steht auf meinem schmutzigen Turnschuh und zerdrückt fast meinen rechten Fuß. Wenigstens ein bisschen habe ich das Gefühl, dass dieses Gewicht meine Schuld beschreiben könnte oder die falsche Verantwortung, die ich übernommen habe. Wie riskant ich gehandelt habe! Was habe ich mir dabei gedacht, einfach alles hinter mir zu lassen und hierher zu kommen? Das habe ich jetzt davon; gefangen in einer Wohnung mit meinem Exfreund und dessen besten Freund. Und Luna. Ich habe nicht einmal einen Job, wenn ich nicht auch die letzte Runde der Vorstellungsgespräche bei dem Verlag überstehe. Zwar fand mich die Personalchefin per Videochat wahnsinnig sympathisch, aber sicher kann man sich nie sein, fürchte ich. Falls ich diese Stelle auch noch verliere, bin ich verloren. Das darf nicht passieren! Ich kann nicht zurück nach Bayern! Nicht nachdem meine Mutter mich zurückgelassen hat. Mit einem lauten Knall schließe ich den Kofferraum und schnappe mir meinen Karton; er wiegt schwer in meinen Händen und reißt ein wenig Haut ein. Ich beiße die Zähne zusammen und hieve mein Zeug einfach hinein, die Treppe rauf und in die Wohnung. Das Kissen, das ich in die Tür gesteckt habe, damit sie nicht zufällt, liegt unverändert da. Es ist gelb und hat mich spontan an unser Freundschaftsarmband erinnert, das ich in meine Kiste gesperrt habe, die ich nie wieder in meinem Leben aufmachen wollte. „Emma?!", Lunas Stimme scheint aus der Küche zu kommen und klingt ziemlich panisch für einen normalen Morgen am Wochenende. „Ja?", rufe ich und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen, als wäre das hier selbstverständlich. „Ich hab es dir doch gesagt", Maiks Brummen ist unverkennbar und ziemlich laut, sodass man es bestimmt noch auf dem verlassenen Flur hört. „Was ist denn?", ächze ich, als ich meinen Karton erst einmal im Flur parke und in die Küche gehe. Zu spät bemerke ich, dass ich immer noch meine Straßenschuhe anhabe. „Ich hab gefürchtet, du hättest doch das Weite gesucht", Luna lächelt mich erleichtert an, wie sie da an Maik lehnt. Seine Hand liegt vertraut um ihre Hüfte geschlungen da, als wäre sie bereits ein Teil von Luna. Versehentlich lächele ich. „Nope", ich trete von einem Fuß auf den anderen, „ich habe bloß meine Sachen reingetragen." „Was? Ich wäre dir natürlich zur Hand gegangen", Maik schüttelt den Kopf und nimmt die Hand von seiner Freundin, als er zum Kühlschrank tigert. Dabei streifen sich unsere nackten Arme, beinahe hätte ich es nicht einmal bemerkt. Warum hat Tim dann so enorme Auswirkungen auf mich?! Wieso kann ich bei ihm nicht so lässig bleiben wie bei Maik auch?! „Hm ja, danke, aber ich bin schon ein großes Mädchen und kann das alleine", murmele ich und Luna lacht bei meinen Worten. Fragend sehe ich zu ihr, als sie sich rückwärts auf die Arbeitsplatte schwingt. „Das wissen wir. Ich finde es eh so mutig, dass du zurückgekommen bist", erklärt sie und ich nicke. Was kann ich auch anderes sagen? Nein, eigentlich bin ich geflüchtet? „Tja, eigentlich habe ich mit einer eigenen Wohnung geplant. Vielleicht deshalb", rutscht er mir heraus, aber Luna nimmt es gar nicht so bissig auf, wie es gemeint war. Zum Glück, irgendwie hätte ich doch ein schlechtes Gewissen, würde ich sie derart vor den Kopf stoßen. „Oh man, du hast Recht. Wie geht es eigentlich weiter? Hat die Tochter sich nochmal gemeldet?", fragt sie auch bemüht wie immer, während Maik mit irgendwelchen Gläsern herumklappert. „Nein, ich wollte sie aber auch nicht sofort nerven. Ich meine, ihre Mutter wurde gestern oder vorgestern erst eingewiesen. Nur ... Ach, ich weiß auch nicht, ich bin da im Zwiespalt", schnell wende ich mich ab und beschließe beim Eindecken zu helfen, bevor ich mir weiter Gedanken mache. „Du solltest aber echt nachhaken, das kann man bestimmt rechtlich in Frage stellen", Maik hält mir drei weiße Teller hin, als sollte ich sie auf den Tisch stellen. Ich bin froh, dass ich ganz normal miteinbezogen werde und nicht wie ein Gast behandelt werde. Auch wenn ich am liebsten gar nicht hier wäre. „Und wie? Kennt ihr zufällig einen Anwalt oder Polizisten? Leute, ich hab doch keine Ahnung, welche Artikel und Rechte man da erwähnen muss", seufzend verteile ich die Teller auf den Plätzen, die wir gestern Abend hatten. „Ja, wir könnten Tim fragen", Luna setzt sich fröhlich an den Tisch und überkreuzt die Füße unter dem Tisch wie ich es auch immer tue. Trotzdem hat sie Glück, dass ich gerade nichts in der Hand habe, was ich absichtlich fallen lassen könnte. „Er ist nämlich bei der Kripo", Maik kommt mit einem Korb von fertigen Schokocrossaints an den Tisch. „Schön für ihn", ich sage das Erste, was mir auf die Schnelle einfällt. Denn mir ist absolut nicht klar, was ich antworten sollte. Einerseits würde ich die beiden am liebsten anschreien, dass ich niemals Tims Hilfe annehmen werde und er sich bei der Kripo sicher nicht mit Wohnungen befassen wird, andererseits schwirren auch einige Fragen in meinem Kopf umher. Warum? Warum musste er zur Kripo? Wer bringt sich freiwillig in Schusslinie oder riskiert es, selber zum Mörder zu werden, wenn er Verbrechen und Gewalt verabscheut? Wie gebrochen oder mutig muss ein Mensch sein? „Es klingt nicht, als würdest du ihn fragen wollen", stellt Luna fest und hält mir eine Milchtüte hin, ich reiße sie ihr grober als gewollt aus der Hand: „Nein!" „Okay, er ist dein Exfreund und okay, er hat einen Fehler gemacht und dir weh getan, aber kannst du nicht ... ich meine ... Warum lässt du dir nicht helfen? Dann wärst du schneller aus der Wohnung heraus ...", druckst Maik herum, Luna tritt ihn lautstark unter dem Tisch. Dabei müsste sie eigentlich auch wissen, dass Maiks Worte nicht allzu sehr gewichten, jedenfalls ist er jemand, der ein Händchen dafür hat, Dinge ungünstig zu formulieren. Besonders Luna sollte das auswendig kennen, zumal die beiden sich öfter beinahe wegen Missverständnissen getrennt hätten, als ich mir ein neues Buch habe kaufen können. Im Ernst, Luna hat mich fast jeden Tag, den wir nicht zusammen verbracht haben, angerufen und brauchte einen Rat oder jemanden, dem sie von den süßen Momenten mit Maik erzählen konnte. Kein Wunder, als sie damals eine kleine Schwester bekommen hat, drehte sich alles nur noch um das Baby und niemand aus der Familie hat sich wirklich mehr um meine beste Freundin gesorgt, weil sie angeblich alt genug war mit ihren sechzehn Jahren. Also hat sie mir alles erzählt, vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als nur das, was man seiner besten Freundin anvertraut. Ich hatte das Gefühl, wir waren damals auch ein Stück weit eine Familie, wie Schwestern.

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